Markus Glasser erzählt in »Lil« die Geschichte einer Unternehmerin im New York um 1880

Rache muss süß sein

Die Eisenbahnmagnatin Lillian Cutting ist eine Ausnahmeerscheinung im New York um 1880. Wie sie zu Fall gebracht werden soll und wie sie als weiblicher Phönix aus der Asche emporsteigt.

New York City, 1880. Lillian »Lil« Cutting verhält sich nicht so, wie es von einer Dame der besseren Gesellschaft erwartet wird. Die exzentrische Unternehmerin intrigiert nicht, sie investiert lieber, nennt eine Eisenbahngesellschaft ihr eigen, kauft Grundstücke auf und leitet eine Bank. Ihre Tatkraft hat sich zu ihrem Bedauern auf ihren Sohn Robert nicht vererbt. Als Lils loyaler Ehemann Chev stirbt, sieht der Sohn die Chance, das Vermögen der Mutter an sich zu reißen. Aber dazu muss er sie auf elegante Weise aus dem Verkehr ziehen. Warum sie nicht entmündigen lassen?

Tatsächlich war es einem männlichen Familienmitglied zu dieser Zeit möglich, eine weibliche Verwandte unter Vorwänden ins Irrenhaus sperren zu lassen. Der in diesem Fall hinzugezogene Nervenarzt Dr. Fairwell stellt dann auch bereitwillig seine Diagnose: Lillian wolle sich mit der gottgegebenen Frauenrolle nicht abfinden, außerdem übertreibe sie die Trauer um den Gatten auf krankhafte Weise. Da helfe nur Morphium.

Das klingt eigentlich alles deprimierend, aber Markus Glassers Roman »Lil« ist witzig, geradezu überbordend, voller geistreicher Repliken, scharfsinniger Beobachtungen und kleiner Gags. Zudem nimmt Lillian im zweiten Teil des Buchs süße Rache an ihren Peinigern. Nonchalant erklärt sie: »Es ist vielleicht eine dumme Angewohnheit, aber wenn jemand mich zerstören will, dann kränkt mich das.« Dabei geht die kluge Rächerin derart geschickt vor, dass es nie die Falschen trifft, die Richtigen aber aufs Gemeinste – und aufs Witzigste.

Erzählt wird das alles von Lillians Ururenkelin Sarah Cutting, einer Journalistin, die ihre eigenen Gründe hat, den Psychiatern zu misstrauen. Aufmerksame Zuhörerin ist dabei ihr Hund Miss Brontë. Aber die Geschichte einer Frau, die für ihren eigenen Lebensentwurf kämpft, hat unbedingt ein größeres Publikum verdient.

Markus Gasser: Lil. C. H. Beck, München 2024, 238 Seiten, 24 Euro