Der sprunghafte Anstieg von antisemitischen Straftaten seit dem 7. Oktober

Pflastersteine und Morddrohungen

Seit dem 7. Oktober gibt es einen sprunghaften Anstieg antisemitischer Vorfälle. Die Konsequenz ist, dass jüdisches Leben immer weniger in der Öffentlichkeit stattfinden kann.

Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Berlin ist im Oktober sprunghaft gestiegen – und sie werden immer gewaltsamer. Mitte voriger Woche stellte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (Rias Berlin) ihren Jahresbericht 2023 vor. 1 270 antisemitische Vorfälle hat die Recherchestelle im vergangenen Jahr registriert. Das sind 50 Prozent mehr als im Vorjahr und insgesamt mehr als in jedem anderen Jahr seit Beginn der Dokumentation 2015. 783 Vorfälle, und damit etwa 62 Prozent aller Vorfälle, ereigneten sich demnach in den knapp drei Monaten vom 7. Oktober bis Jahresende. Der vergangene Oktober ist mit 323 der Monat mit den meisten Vorfällen, die das Projekt seit seinem Bestehen ­dokumentiert hat. In den neun Monaten vor dem 7. Oktober kam es im Vergleich durchschnittlich zu 53 Vorfällen. Antisemiten erweisen sich somit deutlich inspiriert von den Massakern der Hamas. In 62 Prozent der erfassten Vorfälle handelte es sich dem Bericht zufolge um israelbezogenen Antisemitismus.

Was das für die Juden Berlins bedeutet, veranschaulichte Anna Chernyak Segal, Geschäftsführerin der jüdischen Gemeinde Kahal Adass Jisroel: »Wir erleben seit dem 7. Oktober einen massiven Anstieg an Gewalttaten und Angriffen auf Juden und Jüdinnen unmittelbar als Gemeinde und das passiert eigentlich täglich.« Bereits am 18. Oktober verübten Unbekannte einen Brandanschlag auf das Gemeindezentrum der Kahal Adass Jisroel, in dem neben einer Synagoge auch eine Kindertagesstätte untergebracht ist. Und die Angriffe gehen in diesem Jahr weiter. Trauriger Höhepunkt bisher: Anfang Mai wurde ein Gemeindemitglied auf offener Straße antisemitisch beleidigt und so brutal verprügelt, dass er Knochenbrüche erlitt.

»Wir erleben seit dem 7. Oktober einen massiven Anstieg an Gewalttaten auf Juden und Jüdinnen unmittelbar als Gemeinde und das alltäglich.« Anna Chernyak Segal von der jüdischen Gemeinde Kahal Adass Jisroel

Das aber seien nur die zwei schlimmsten Vorfälle, so Chernyak Segal. »Dazu gehört noch eine große Anzahl von kleineren Angriffen, die fast täglich geschehen« – und über die im Gegensatz zu den beiden genannten nicht medial berichtet wurde. Sie erzählt von verbalen Angriffen auf offener Straße und in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder antisemitischen Markierungen an Wohnhäusern von Gemeindemitgliedern. Die Mesusot, die Behälter für den schriftlichen jüdischen Haussegen, die meistens an Wohnungseingängen hängen, würden abgerissen, sogar mit Pflastersteinen seien Gemeindemitglieder bereits angegriffen worden. Erst kürzlich hätten außerdem muslimische Erwachsene Kinder ihrer Gemeinde beim Spielen fotografiert und gefilmt.

Die Konsequenz ist, dass sich die Gemeinde immer mehr aus dem öffentlichen Raum zurückzieht. »Schule und Kita mussten ihre Ausflüge, Spielplatzbesuche und sogar den Sportunterricht absagen, weil das außerhalb unserer Einrichtungen liegt und dort nicht genügend Sicherheit gegeben wäre«, so Chernyak Segal. Eltern brächten ihre Kinder vermehrt mit dem Auto in die Schule. Die Mesusot an den Hauseingängen verstecke man oder entferne sie gar. Bei Lieferdiensten gebe man nicht mehr den richtigen Namen an und bei Taxifahrten zu jüdischen Einrichtungen lasse man sich ungern zu Hause abholen.

Selbst ihre Social-Media-Kanäle stellte die Gemeinde nach einer Flut an Hasskommentaren und Belästigungen auf privat. Zu unsicher sei es, Fotos von Gemeindemitgliedern öffentlich zu posten. Mitgliedern der Gemeinde seien bereits Fenster eingeschlagen worden. Die Polizei habe dies zwar aufgenommen, den Opfern gleichzeitig aber empfohlen wegzuziehen, da man letztlich nichts dagegen machen könne. Die Mitglieder der Gemeinde meldeten dementsprechend nicht mehr jeden Vorfall; zu häufig hätten sie schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht.

Schließlich sah die Gemeinde sich gezwungen, ihren Mitgliedern zu raten, sich in der Öffentlichkeit nicht mehr erkennbar jüdisch zu kleiden. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was die Gemeinde bislang vertrat. Lange trat man selbstbewusst nach außen. »Jetzt müssen wir unser Selbstbewusstsein dem Schutzbedürfnis opfern«, so Chernyak Segal. 189 antisemitische Vorfälle registrierte Rias Berlin im Bezirk Mitte und damit die meisten in Berlin, 2022 waren es 111. Auch in Stadtgebieten, wo es bislang wenigstens möglich war, mit Kippa auf die Straße zu gehen, ohne allzu viel zu riskieren, sei dies nicht mehr der Fall.

An zweiter Stelle listet der Bericht den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg mit 126 antisemitischen Vorfällen (2022: 27). Anfang Mai gab das jüdisch-israelische Restaurant »DoDa´s Deli« bekannt, nach Jahren in Friedrichshain aufgeben zu müssen. Nicht nur online wurde das Restaurant wiederholt antisemitisch angegangen. Bereits am 8. Oktober zündeten Unbekannte laut Rias Berlin eines der Ladenschilder, auf dem »Tel Aviv Market Food« zu lesen war, an. Die Inhaberin entschied sich demnach, das Schild nicht wieder anzubringen, um sich vor weiteren Sachbeschädigungen zu schützen. Im April entdeckte sie, dass in das Holz ihrer Tische »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt war. Dem Tagesspiegel sagte sie: »Wir fühlen uns in Friedrichshain leider nicht mehr sicher, es ist sehr schade, aber es geht nicht anders.« Aus Angst, dass irgendwann mehr passiere, sei das Restaurant auf Empfehlung von Bekannten nun in den Westen der Stadt, nach Wilmersdorf, gezogen.

Freilich ist das Problem nicht auf die Hauptstadt beschränkt. Auch in Freiburg kämpft ein Restaurant konstant mit antisemitischen Angriffen. Die Ankündigung, Baba Ganoush, ein besonders in Israel beliebtes Gericht, auf die Karte zu nehmen, brachte dem syrisch-kurdischen Restaurant »Damaskos« im April einen Shitstorm und Boykottaufrufe ein. Auf arabischen Websites hieß es, das Betreiberpaar seien Juden, die sich tarnten. Am Telefon sagten die beiden, dass man ihnen gedroht habe, ihren Laden anzuzünden (Jungle World 16/2024). Am 26. Mai berichteten sie, dass die Angriffe kein Ende nähmen und die Situation immer schlimmer werde. Am gleichen Tag hätten zwei arabische Gäste im Restaurant Flyer zerrissen, auf dem besagtes Gericht beworben wird. Darauf angesprochen, seien sie ausgerastet und hätten den Betreibern ins Gesicht gespuckt und sie unter anderem als »Völkermörder« und »Zionisten« betitelt.

Andernorts in Baden-Württemberg wurden jüngst ein 18- und ein 24jähriger festgenommen, die sich den Behörden zufolge über einen Messerangriff auf Besucher einer Synagoge in Heidelberg ausgetauscht haben. »Als beabsichtigtes Ziel wurde die Tötung von einem oder mehreren Besuchern beim Angriff auf die Synagoge mit einem anschließenden Märtyrer-Tod besprochen, bei dem sich beide Personen von Einsatzkräften erschießen lassen wollten«, so die Behörden.

Zurück nach Berlin. Seit Monaten kritisieren jüdische Studierende die Zustände an den Berliner Universitäten, wo sie konstant mit Antisemitismus konfrontiert werden; einige denken darüber nach, ihr Studium zu unterbrechen, wenn nicht sogar abzubrechen. Umso unverständlicher, dass die Beendigung der jüngsten Besetzung von israelfeindlichen Aktivisten an der Humboldt-Universität (HU) erst auf Anweisung »von ganz oben«, also vom Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU), durchgesetzt worden sei, wie Universitätspräsidentin Julia von Blumenthal nicht müde wurde, in Pressemitteilungen zu betonen. Zwar teile sie »viele« Anliegen der Besetzer nicht, sie wolle aber betonen, »bei den Studierenden zu sein und ihnen zu zeigen, dass ich auch ihre Präsidentin bin«. Fraglich, welches Gefühl sie damit ihren jüdischen Studierenden und Lehrenden vermittelt – de­ren Leid sie selbstverständlich auch stets vor Augen gehabt habe, wie sie sagte.

Neben Aufrufen zur Intifada schmierten die Besetzer unter anderem über das Büroschild eines Dozenten ein rotes Dreieck, das Symbol, mit dem die Hamas ihre Anschlagsziele markiert. Immer häufiger wird es in der israelfeindlichen Szene genutzt, um politische Gegner zu bedrohen. So wurden etwa der Technoclub About Blank sowie die Neuköllner Programmschänke Bajszel damit versehen. Bislang ist das Symbol nicht ver­boten. Nach der Räumung an der HU hat Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) nun angeregt, dies zu ändern.

Am Samstag berichtete die Welt, mutmaßliche Mitglieder der Hamas hätten Anschläge in Deutschland geplant. Bereits im Dezember seien drei Männer in Berlin und ein weiterer in Rotterdam festgenommen worden, die im Verdacht stünden, Mitglieder der Hamas zu sein. Laut Generalbundesanwalt hat die palästinensische Terrorgruppe die Männer damit beauftragt, »ein Erddepot mit Waffen in Europa ausfindig zu machen«. Die Waffen sollten demnach nach Berlin gebracht werden – »für mögliche Anschläge auf jüdische Einrichtungen«. Neuen Erkenntnissen zufolge wurden womöglich bereits konkrete Anschlagsziele ausgespäht. Verschiedene Medien nennen die israelische Botschaft in Berlin als eines der möglichen Angriffsziele. Anschläge im Westen wären ein Novum. Bislang gilt die Hamas als ausschließlich regional agierende Organisation. Laut Verfassungsschutz war Europa für sie bisher ein Rückzugsort, um Spenden einzusammeln, neue Anhänger zu gewinnen und Propaganda zu verbreiten.

Yarden Roman-Gat war 54 Tage in Gefangenschaft der Hamas. Nach ihrer Freilassung berichtete sie von einem Gespräch zwischen den Terroristen, das sie in Geiselhaft mitgehört hatte. »Israel war lediglich erst der Anfang«, sollen sie gesagt haben; und auch, dass es in Deutschland genügend Kämpfer der Hamas gebe.