Schwere Unruhen im französischen Überseegebiet Neukaledonien

Krawall im Pseudoparadies

Im französischen Überseegebiet Neukaledonien eskalieren Ausschreitungen von Unabhängigkeitsbefürwortern. Auslöser der Proteste ist eine Änderung des Wahlrechts, die es Zugezogenen nach zehn Jahren erlaubt, an Regionalwahlen teilzunehmen.

Paris. »Die Insel, die dem Paradies am nächsten liegt, ist zur am nächsten bei der Hölle liegenden geworden.« Diese Worte stammen aus einer gemeinsamen Erklärung der katholischen und der protestantischen Kirche des zu Frankreich gehörenden Archipels Neukaledonien, die am Pfingstsonntag in der Kathedrale der Hauptstadt Nouméa auf der Hauptinsel Grande Terre verlesen wurde. Der Text bezieht sich auf die Unruhen, die in der Nacht zum 14. Mai ausbrachen und seither anhalten. Sechs Tote wurden offiziell bis Montag verzeichnet, darunter vier Angehörige der melanesischen Urbevölkerung der Kanaken – die Unabhängigkeitsbefürworter nennen die Inselgruppe deshalb Kanaky – und zwei Gendarmeriebeamte, von denen einer behördlichen Angaben zufolge durch Schüsse seiner eigenen Kollegen starb. Die Leichen der beiden Beamten, Nicolas Molinari und Xavier Salou, trafen am Pfingstmontag am südfranzösischen Militärflughafen in Istres ein, am Mittwoch wurde ihnen zu Ehren ein Staatsakt in Paris gegeben.

Die getöteten Melanesier wurden nach übereinstimmenden Berichten von Bürgerwehren europäischstämmiger Bewohner von Neukaledonien erschossen, was indirekt auch der oberste französische Staatsvertreter auf der ­Inselgruppe einräumte: Louis Le Franc, der amtierende Hochkommissar der Republik für Neukaledonien. Er sprach davon, die Opfer seien »nicht von Sicherheitskräften getötet worden, sondern von Privatleuten, die möglicherweise Selbstschutz betrieben«.

Diese vorgebliche Selbstverteidigung betreiben weiße Milizen, die wegen der Sachbeschädigungen der ersten Tage nicht nur zu Knüppeln, sondern auch zu Schusswaffen griffen. 96.000 Feuerwaffen sind legal in Neukaledonien regi­striert, wo alle Bevölkerungsgruppen gerne der Jagd nachgehen. In Gewerkschaftskreisen, also bei der neukaledonischen USTKE und der eng mit ihr ­kooperierenden CGT in Festlandfrankreich, zirkulierte unterdessen am Montag die Zahl 26 Getöteter.

Aserbaidschan empfing mehrere Anführer der neukaledonischen Unabhängigkeitsbewegung und teilt ohnehin kräftig gegen Frankreich aus – wie vermutet wird, um Frankreich dessen Unterstützung Armeniens heimzuzahlen. 

Die Staatsmacht verhängte abendliche Ausgangssperren, ließ rund 200 Personen bis zu Wochenbeginn festnehmen und die Armee ausrücken, um »Häfen und den Flughafen zu sichern«. Am Montagabend beschloss der um Staatspräsident Emmanuel Macron versammelte Krisenstab, nun auch öffentliche Gebäude von der Armee bewachen zu lassen. Zusätzlich entsandte man 1.000 Angehörige von Polizei und Gendarmerie, um die 1.700 Ordnungshüter, die in Neukaledonien stationiert sind, zu verstärken. Von den Entsandten gehören 100 Mann der Eliteeinheit GIGN an, die mit der deutschen GSG 9 ver­glichen werden kann.

Außerdem ist die im chinesischem Besitz befindliche ­Social-Media-Plattform Tiktok in Neu­kaledonien derzeit abgeschaltet. Frankreich beschuldigt China, die Unabhängigkeitsbefürworter zu unterstützen; Aserbaidschan empfing jüngst sogar mehrere Anführer der neukaledonischen Unabhängigkeitsbewegung und teilt ohnehin kräftig gegen Frankreich aus – wie vermutet wird, um Frankreich dessen Unterstützung Armeniens heimzuzahlen. Der Sachschaden durch die Unruhen lag bei etwa einer Milliarde Euro, am Dienstagmorgen begann die Evakuierung von Tourist:innen.

Starke Unabhängigkeitsbestrebungen

Neukaledonien bildet eines der drei derzeit zu Frankreich zählenden Territorien im Pazifik, neben der kleineren ­Inselgruppe Wallis und Futuna sowie dem weitaus bekannteren Französisch-Polynesien. Dessen Inselparlament und -regierung werden seit 2023 von Befürwortern einer Loslösung von Frankreich dominiert beziehungsweise geführt. Ginge es nach ihnen, wäre die Abtrennung binnen 15 Jahren vollzogen.

Auch in Neukaledonien existieren starke Unabhängigkeitsbestrebungen, denen aber auch starke Gegenkräfte gegenüberstehen. Eine Gesetzesinitiative aus dem März schwächt nun die Unabhängigkeitsbefürworter: Der konservativ dominierten Senat und die Nationalversammlung verabschiedeten am Dienstag der Vorwoche ein Gesetz, das die Wählerverzeichnisse für künftige Unabhängigkeitsreferenden auch für französische Staatsangehörige öffnet, die seit mehr als zehn Jahren auf der Inselgruppe leben. Das ist bislang durch Vereinbarungen mit Verfassungsrang unmöglich; um an regionalen Abstimmungen teilnehmen zu dürfen, muss man demnach mindestens 25 Jahre auf den Inseln gelebt haben. Die grundlegende Reform, die in Paris noch durch die zu Verfassungsänderungen befugte Parlamentarische Versammlung bestätigt werden muss, gilt als Auslöser der Unruhen.

Neukaledonien, dessen melanesische Bevölkerung 1853 von Frankreich unterworfen worden war, wurde anders als die Mehrzahl der französischen Kolonien, die vor allem zum Rohstoff­erwerb dienten, zur Siedlungskolonie. In den ersten Jahrzehnten wurden vorwiegend politische und andere Sträflinge dort angesiedelt, später kamen jedoch mehr und mehr freiwillige Siedler hinzu. Dabei drängten die Kolonisa­toren die Kanaken auf der Hauptinsel Grande Terre immer mehr in den gebirgigen und landwirtschaftlich schwer nutzbaren Norden ab. Die weitaus fruchtbarere Südhälfte der Insel sowie die städtischen Zonen, vor allem Nouméa, werden von angesiedelten Weißen dominiert.

Feuer an die Lunte gelegt

Die alteingesessene Bevölkerung siedelte in Dörfern oder in Armenvierteln rund um Nouméa und war weitgehend vom Bildungssystem und damit auch vom Zugang zu besseren Arbeitsmöglichkeiten ausgeschlossen. Perspektiv­losigkeit trieb viele Melanesier in den Alkoholismus. Die Inselbevölkerung besteht heute zu jeweils 40 Prozent aus melanesischen Kanaken und europäischstämmigen Einwohnern sowie zu 20 Prozent aus Einwanderern von anderen Pazifikinseln und aus Asien.

1998 vereinbarten die französische Regierung und die für sowie gegen die Unabhängigkeit kämpfenden Parteien auf der Insel drei aufeinander folgende Referenden, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Kanaken zuvor in relevanter Größenordnung nicht in die Wählerverzeichnisse eingetragen waren. 25.000 von ihnen fehlten 2018 in den Wählerverzeichnissen, die insgesamt rund 175.000 Wahlberechtigte umfassten, 2023 waren es noch 11.000 Melanesier, die nicht aufgenommen waren. Das erste Referendum 2018 brachte einen Stimmenanteil von 43 Prozent für die Unabhängigkeit, das zweite 2020 zwischen 46 und 47 Prozent.

Viele Beobachter erwarteten für das dritte einen knappen, möglicherweise für die Unabhängigkeit positiven Ausgang. Dieses Referendum wurde dann aber im Herbst 2021 unter Bedingungen abgehalten, die von Versammlungsbeschränkungen wegen der Covid-19-Pandemie und Trauer über die infolge der Pandemie Gestorbenen geprägt waren. Die Unabhängigkeitsbefürworter forderten damals eine sechsmonatige Aufschiebung des dritten Referendums, die französische Regierung verweigerte dies. Letztlich boykottierten die Unabhängigkeitsbefürworter die Abstimmung, die Wahlbeteiligung fiel von 86 Prozent 2020 auf 43 Prozent im Jahr 2021. Die unter diesen Umständen erreichten 96 Prozent für den Verbleib bei Frankreich waren dementsprechend nicht aussagekräftig.

Statt aber mit verärgerten Unabhängigkeitsbefürwortern zu verhandeln, legte die Regierung regelrecht Feuer an die Lunte. Weil sie einseitig durch die Veränderung des Wählerregisters eine einschneidende Veränderung vollzog, befürchten viele Kanaken erheblich geschmälerten Einfluss.