Der Episodenfilm »Irdische Verse« untersucht die Tugendbürokratie im Iran

Tanzende Gespenster

Die iranische Filmsatire »Irdische Verse« führt mit leichter Hand den bürokratischen Irrsinn der Sharia vor.

Hände ordnen Papiere, Telefone klingeln, Stühle werden gerückt. Der satirische Episodenfilm »Irdische Verse« erzählt in neun Tableaus von den Auswirkungen der Sharia auf das Leben der Iranerinnen und Iraner im Gottesstaat. Dabei nimmt sich das iranische Regie-Duo Alireza Khatami und Ali Asgari nicht das Grauen der Menschenrechtsverletzungen des iranischen Rechtssystems vor, sondern zeigt den ganz alltäglichen Irrsinn einer bizarren Glaubensbürokratie, die über die persönlichsten Aspekte des Lebens des Einzelnen, wie Kleidung, Haarschnitt und Freizeit wacht.

»Irdische Verse« ist ein in vielerlei Hinsicht erstaunlicher Film.

Ein frischgebackener Vater steht vor dem Schalter eines Standesamts, um die Geburtsurkunde für seinen Sohn ausstellen zu lassen. Von dem Beamten auf der anderen Seite ist nur die Stimme zu vernehmen. Er will wissen, welchen Namen das Kind haben soll. »David«, antwortet der junge Mann. ­»David?« fragt der Beamte gedehnt zurück. Es beginnt ein zirkulärer Dialog über kulturfremde Namen, Lieblingsautoren und iranische Dichtkunst, der mit der Kapitulation des erschöpften jungen Vaters endet.

Einige Episoden betonen die Subversion, andere das Ausgeliefertsein an Behörden mit undurchdringlichem Regelwerk, das die Menschen zermürbt und Denunziantentum befördert. Ein junger Mann muss sich vor der Führerscheinbehörde ausziehen, damit der Beamte seine Tattoos überprüfen kann, ein Drehbuchautor muss den Mord aus seinem Krimi streichen, ein Arbeitsloser im Bewerbungsgespräch das obligatorische Waschritual vorm Gebet pantomimisch nach­stellen.

Die in einem Bekleidungsgeschäft spielende Shopping-Episode ist der wohlkalkulierte Höhepunkt der Filmsatire. Eine Mutter sucht für ihre mit Mickey-Mouse-Pullover und Jeans bekleidete Tochter ein komplettes Schleier-Set für die anstehende Einschulungsfeier aus. Farben, Saumlänge, Material, alles folgt komplizierten Vorschriften. Mutter und Verkäuferin sind nicht im Bild, nur der geschäftige Singsang ihrer hellen Stimmen ist zu hören.

Blitzer. Eine Frau wird beschuldigt, in ihrem Auto ohne Kopfdeckung gefahren zu sein

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Verleih

Unterdessen performt die Tochter im Stil von Tanzvideos eine Choreographie vor der Kamera und stellt der Mutter selbstbewusste Fragen – warum trägt sie das Gewand denn nicht, wenn sie es doch so schön findet? Wie sich das fröhliche Mädchen unter den Stoffmassen für einen Moment in ein trauriges Gespenst verwandelt, ­bevor es den Hijab abnimmt, die pinken Kopfhörer wieder aufzieht und unbeeindruckt weitertanzt, ist nicht nur umwerfend inszeniert, sondern fragt implizit auch danach, welche Kräfte sich in Zukunft in der Gesellschaft durchsetzen werden.

»Irdische Verse« ist ein in vielerlei Hinsicht erstaunlicher Film. Da ist zunächst einmal die Leichtigkeit, mit der das erstickende Vorschriftenwesen vorgeführt wird. Erstaunlich ist das vor allem eingedenk dessen, dass der Film im Iran produziert wurde. Auch dass der in Kanada lebende iranisch-amerikanische Regisseur Alireza Khatami mit seinem iranischen Kollegen Ali Asgari zusammenarbeiten durfte, ist keine Selbstverständlichkeit. Dass der Film überhaupt genehmigt wurde, verdankt er vermutlich der Tatsache, dass er es schafft, als ätzende Sharia-Kritik, aber auch als universale Bürokratiesatire gesehen werden zu können.

Irdische Verse (Iran 2023). Buch und Regie: Alireza Khatami und Ali ­Asgari. Darsteller: Bahman Ark, Arghavan Shabani, Servin Zabetiyan und andere. Filmstart: 11. April