Der Hausarzt sollte eine gewisse Distanz zu seinen Patienten halten

Der Patient, dein Freund

Für Hausärzte gibt es Gründe, ihre Angehörigen und Freunde zu behandeln – und Gründe, es lieber nicht zu tun. Eine gesundheitspolitische Kolumne.
Praxis und Theorie Von

Die Angst ist ein treuer Begleiter des Hausarztes. Ob persönlich, per Telefonanruf oder per Instant Messaging: Die Gefahr lauert überall. Auf der Straße, bei Partys, ja selbst im Supermarkt oder im Kino – überall kann er auf Bekannte, Angehörige oder Freunde treffen. Die wollen, egal wie sehr sie betonen, wie unangenehm es ihnen sei, nur ganz schnell, wenn es nicht gerade zu viele Umstände mache, einen Rat oder eine Meinung zu manifesten Krisen oder einem ­gesundheitlichen Problemchen von ihrem Freund, dem Hausarzt.

Tatsächlich sind diesem solche Situationen unangenehm, nicht den Ratsuchenden. Ganz unbefangen breiten sie – nicht selten im Beisein mehr oder weniger nahestehender Personen – ihre intimsten Beeinträchtigungen aus und erwarten sofortige konstruktive Expertise. Hat mein Stuhlgang die richtige Farbe? Warum drückt es hier und wieso zieht es dort? Eine kurze zweite Meinung wird erbeten, bevor man sich diesem oder jenem Eingriff unterzieht. Es dauere doch nur eine Minute!

Ärzte sind im Verwandten- und Bekanntenkreis ähnlich beliebt wie Handwerker oder Rechtsanwälte.

Selbst Bitten um ­diverse Formulare erreichen den Hausarzt bei solchen Gelegenheiten: ein Rezept für dies oder jenes angenehme Mittelchen, eine Krankschreibung, Flugunfähigkeitsbescheinigungen, Physiotherapie- und selbst Kuranträge sind im Repertoire.

Ärzte sind im Verwandten- und Bekanntenkreis ähnlich beliebt wie Handwerker oder Rechtsanwälte. Da der Hausarzt einen sozialen Beruf hat und es seiner Eitelkeit schmeichelt, möchte er natürlich jederzeit und sofort helfen. Schließlich ist man immer im Dienst. Doch Erfahrung, Moral und wissenschaftliche Erkenntnis halten ihn zurück.

Unter Zeugen in womöglich noch nicht einmal ganz nüchternem Zustand Gesundheitstipps zu geben, kann der Einstieg in eine Abwärtsspirale der Beziehung von Arzt und Patient sein, aus der es später kein Entkommen mehr gibt: Vor lauter Freude über die unverkrampfte Konversation in festlicher Runde, Krankschreibungen und andere Gefälligkeiten erwählen immer mehr Bekanntschaften den Hausarzt zu ihrem Hausarzt. Und so trifft man sich wenige Tage später im Wartezimmer wieder. Sobald sich die ersten Freunde festgesetzt haben, kommen bald die nächsten und irgendwann sind alle Freunde und deren Freundesfreunde Patienten und alle Patienten sind gleichfalls Freunde und deren Freundesfreunde.

Für den Hausarzt ist das ein Fiasko, ein privates und professionelles zugleich. Denn Studien zeigen, dass er nahestehende Personen nicht behandeln sollte. Fehlende Distanz kann dazu führen, dass Mediziner entweder zu wenig oder zu viel diagnostizieren. Ersteres in der Hoffnung, es werde schon nicht so schlimm sein. Letz­teres aus Angst davor, etwas Schlimmes zu übersehen. Ebenso können notwendige, aber unangenehme Untersuchungen unterbleiben. Wer trägt die Verantwortung, wenn etwas schiefgeht? Was passiert, wenn einer der Freundesfreunde sich schlecht behandelt fühlt oder dem Hausarzt wirklich ein Fehler unterläuft? Wird er dann aus allen Zusammenhängen verstoßen?

Er hält es daher mit der größten Ärztevertretung der USA, der American Medical Association, die in ihren Leitlinien unmissverständlich davon abrät, Angehörige oder auch sich selbst zu behandeln: »Die professionelle Objektivität kann beeinträchtigt werden, wenn ein unmittelbares Familienmitglied oder der Arzt der Pa­tient ist.«

Jedoch sind den ärztlichen Kollegen hierzulande solche Erwägungen einer Umfrage des Ärzteblatts zufolge oftmals fremd. ­Besonders Chirurgen sind demnach überzeugt davon, ihre Behandlungen seien das Beste für ihre Verwandtschaft.

Ist es nicht besser, Freunde und Verwandte als Patienten zu haben als gar keine? Was passiert mit seinem Ego, wenn ihm niemand mehr schmeichelt?

Ist es das für den Berufsstand typische Selbstbewusstsein, das sie ihre Liebsten ans eigene Messer liefern lässt? Die Urheber der Befragung halten noch eine andere Interpretation für wahrscheinlich: Ärzte misstrauen ihresgleichen, denn sie wissen aus eigener Erfahrung, unter welchen ökonomischen Interessen ihre Kollegen Entscheidungen treffen und halten sie daher für wenig objektiv – ja ­sogar für korrupt. Davor möchten sie ihnen nahestehende Menschen bewahren und übernehmen deshalb Behandlungen, auch wenn sie ihre Kompetenzen übersteigen. Ein Kollege fasste es einmal so zusammen: Verwandte von Ärzten seien von allen am schlechtesten dran und merkten es nicht einmal.

Den Hausarzt stimmt das alles sehr nachdenklich. Sind nicht auch andere Patienten schwierig? Ist es nicht besser, Freunde und Verwandte als Patienten zu haben als gar keine? Was passiert mit seinem Ego, wenn ihm niemand mehr schmeichelt?

Aber am wichtigsten: Welchen Arzt sollte er selbst fragen, wenn er mal nicht weiter weiß? Vielleicht einen ohne lange Wartezeit und am besten einen, der ihm auch so immer mal wieder begegnet, auf der Straße oder im Supermarkt. Denn seine Zeit ist knapp, bei seinen zahlreichen Verabredungen mit Patienten – Pardon: Freunden.