Wer zum Arzt geht, muss Geduld mitbringen

Gekommen, um zu warten

Es ist Grippezeit. Die Arztpraxen sind voll. In den Wartezimmern zeigt sich die Frustration aller – der Patient:innen und des Hausarztes. Eine gesundheitspolitische Kolumne.
Praxis und Theorie Von

Es ist ein Ort der Ruhe, der Kontemplation, ja der inneren Einkehr: das Wartezimmer. Geduldig sitzen die Kranken und warten auf den Er­lösungsruf des Halbgottes in Weiß, der sie einlässt in das innerste Heiligtum: das Sprechzimmer. Bis es so weit ist, haben die Wartenden Zeit, geduldig ihr Schicksal mit dem ihrer Mitwartenden zu vergleichen und sich mit illustrierten Zeitschriften oder dem Googeln ihrer Symptome auf das Gespräch mit dem Hausarzt vorzubereiten.

Jedoch sieht die Realität völlig anders aus. Denn von Oktober bis April ist die Stimmung in der hausärztlichen Praxis, vorsichtig gesagt, von Anspannung geprägt. In der Erkältungssaison ist das Wartezimmer immer zu voll und die Zeit knapp. Im Schnitt 15 Minuten pro Patient stehen auf dem Papier. De facto sind es aber weniger. Meistens kommen zusätzlich Kranke mit akuten Beschwerden in die Praxis. Manchmal kollabieren Patienten, haben Nervenzusammenbrüche, brauchen ein längeres Gespräch oder eine Ultraschalluntersuchung – und schon ist die ganze Planung dahin.

Selbst Online-Buchungstools ändern nichts daran, dass es nicht genug Personal gibt und kaum jemand von dem Gehalt einer Medizinischen Fachangestellten in einer Großstadt leben kann. Es folgt: wenig Personal auf viele Patient:innen. Also muss die Zeit pro Patient gekürzt werden. Das wiederum verschlechtert die Behandlung, erzeugt ein Gefühl der Unsicherheit und Angst bei Patient:innen und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Akutsystem in Anspruch nehmen; also entweder den Rettungswagen rufen oder in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses gehen – nur um dort auf die gleichen Probleme zu treffen.

Aufrührerische Gesprächsfetzen dringen an das hausärztliche Ohr. Patient:innen drohen mit Beschwerden und schlechten Bewertungen im Internet oder beleidigen gar Medizinische Fachangestellte.

Betritt der Hausarzt das Wartezimmer, folgen ihm nicht selten enttäuschte, bisweilen sogar böse und vielsagende Blicke: Sieht er mich denn nicht? Wurde ich vergessen? Warum kommt der vor mir dran, obwohl ich offensichtlich doller krank bin? Ahnt der Hausarzt nicht, wie eilig ich es habe?

Aufrührerische Gesprächsfetzen dringen an das hausärztliche Ohr. Patient:innen drohen mit Beschwerden und schlechten Bewertungen im Internet oder beleidigen gar Medizinische Fachangestellte. Die mangelhafte Versorgung wird in solchen Zeiten auch jungen und im Allgemeinen gesunden Leuten bewusst, die zum Beispiel aus ernster Besorgnis um ihren Vitaminstatus fürchten.

Doch für den fordistisch trainierten Hausarzt ist das alles kein Problem. Denn Kopfrechnen ist seine Spezialdisziplin. Hier ein Beispiel der täglich mehrfach immer neu ausgeführten Kalkulationen: Für die Vormittagssprechstunde stehen für vier Stunden 18 Patienten im Kalender, das macht 4,5 Patienten pro Stunde. Die erste Stunde verläuft noch planmäßig. Aber der fünfte Patient braucht bereits 25 Minuten, der neunte 21 und zwischen dem 13. und dem 14. kommt jemand mit starken Kopfschmerzen unvorhergesehen in die Praxis. Und dann noch Frau Müller, die exakt um 9.52 Uhr dringend um Rückruf bittet. Sie möchte wissen, was sie gegen ihre Schmerzen nehmen kann oder ob sie doch lieber den Rettungswagen rufen soll.

Und jetzt die alles entscheidende Frage: Wie viel Zeit bleibt dem Hausarzt pro Patient, damit niemand warten muss? Und wie verändert sich die Kalkulation, wenn er vormittags noch eine Tasse Kaffee trinken will und aufs Klo muss? Letzter Satz war ein Scherz, wie Sie sicher gemerkt haben: Ein Profi muss in der Erkältungssaison natürlich nicht aufs Klo.

Allerdings lässt sich mit ein bisschen Kooperation der Patient:in­nen und ein wenig Empathie für die Nöte und Sorgen des niedergelassenen Mediziners die Situation nachhaltig verbessern – wenn alle mitmachen. Dem Hausarzt fällt hierzu folgendes anschauliche Beispiel aus seinem Alltag ein: Stellen Sie sich vor, Herr Meyer braucht nach seiner Chemotherapie für die 12,6 Meter vom Wartezimmer bis an den Arzttisch zwei Minuten und dann nochmal eine, um wieder zu Atem zu kommen. Hin- und Rückweg dauern fünf Minuten – das geht nun wirklich nicht! Vielleicht sollte der nächste Termin an eine fittere Patientin vergeben werden, die auch rechtzeitig losläuft, um im exakten Augenblick vor der sich öffnenden Tür des Sprechzimmers zu stehen. Selbst die Initiative übernehmen, ist das Motto der Zeit.

Neulich hat eine Patientin zugunsten einer anderen auf ihren Termin verzichtet. Verstehen Sie, was der Hausarzt Ihnen erklären will? Am besten wäre es natürlich, wenn alle auf ihren Termin verzichten würden! Dann könnte er endlich mal selbst zum Arzt gehen, sich durchchecken lassen und danach noch eine Tasse Kaffee trinken.