Über Sinn und Unsinn von Vor­sorgeuntersuchungen

Die Sorge mit der Vorsorge

Wer gesund leben möchte, geht zur Vorsorgeuntersuchung. Ob die wirklich was bringt, ist allerdings in vielen Fällen nicht erwiesen. Eine gesundheitspolitische Kolumne.

»Ich möchte Blutabnehmen und einmal alles untersuchen lassen«, erklärt der alles andere als krank wirkende junge Mann im Sprechzimmer und bekräftigt auf die irritierte Nachfrage des Hausarztes, was genau er sich denn vorstelle: »Einfach alles, was es gibt!« Er wolle nichts falsch machen.

Keine Angst, antwortet ihm die Vorsorgeindustrie, wir haben da was im Angebot! Labore bestimmen Werte, Gastroenterolog:innen spiegeln Därme und Mägen, Urolog:innen tasten die Prostata ab, Gynäkolog:innen machen Abstriche und Radiolog:innen röntgen Brüste. Aber es ist nicht nur so, dass Laborärzt:innen und Radio­log:innen gut an der Früherkennung verdienen. Bei einer kleinen Ultraschalluntersuchung durch den Hausarzt kann man außerdem sehen, ob nichts verrutscht und alles an seinem Platz ist. Ist mein Vitamin D noch im Lot, das Cholesterin zu hoch, was sagen die Schilddrüse und die Niere? Und erst die Leber? Nimmt sie mir die Cocktails der vergangenen Woche übel? Ist die Lunge belüftet, das Herz im Takt? Das Gehirn! Woher die ganze Müdigkeit?

Der Selbstoptimierung sind keine Grenzen gesetzt. Der mündige Konsument kann fast unbegrenzt Geld in sich selbst investieren und zum Beispiel jährlich eine Ganzkörper-MRT an sich vornehmen lassen. Selbstverständlich gibt es auch Angebote für Menschen, die der kalten, seelenlosen Schulmedizin kritisch gegenüberstehen: Sie dürfen sich bei Esoteriker:innen von Irisdiagnose bis Bioresonanz etwas Passendes aussuchen. Vorsorgeuntersuchungen lassen sich gut verkaufen. Medien, Gerätehersteller:innen, Ärzt:innen, Heilpraktiker:innen – sie alle verdienen prächtig an der Angst, die sie ihren Kund:innen eingeredet haben. Worüber sie nicht so gerne sprechen, ist die Tatsache, dass Vorsorge auch schaden kann. Denn auf auffällige Befunde folgen oft weitere, invasive Eingriffe, die mit Risiken einhergehen.

Befeuert wird der Untersuchungszirkus von privaten und gesetzlichen Krankenkassen. Sie belohnen ihre Mitglieder mit Boni wie Fitnessarmbändern und Rabatten im Sportverein. Das zahlt sich für die Kassen aus. Zum einen gehen gutverdienende und gesunde Mitglieder häufiger zur Vorsorge als ­ALG-­2-Empfänger:innen, zum anderen werden die Versicherten permanent zur Selbstverantwortung für ihre Gesundheit angehal­ten. Dem stehen gesunde, gutverdienende Mitglieder im Allgemeinen aufgeschlossen gegenüber – und genau die sollen angelockt und in den Kassen gehalten werden.

Dabei ist unwichtig, dass viele der Vorsorgeuntersuchungen keine Vorteile bringen – außer den Ärzt:innen, die daran verdienen. Leben Menschen ohne entsprechende Symptome, die eine Darmspiegelung durchführen lassen, länger als die, die darauf verzichten? Vermutlich nicht. Und auch für die regelmäßigen Untersuchungen auf Hautkrebs gibt es keinen bewiesenen Vorteil. Die Check-up-Untersuchungen beim Hausarzt? Niemand weiß, was sie bringt, weil entsprechende Studien dazu fehlen.

Könnte es sein, dass viele der Untersuchungen schlicht deshalb stattfinden, weil sie Geld bringen? Jedenfalls beobachtet der Hausarzt einen Trend im Kreis der niedergelassenen Kolleg:innen: Ein nicht unbedeutender Teil der Arbeitszeit wird mit Vorsorgeunter­suchungen verbracht. Und ein noch schwerer wiegender Verdacht drängt sich auf: Vielleicht gibt es so wenige Termine bei ambulant tätigen Ärzt:innen, weil viele Kolleg:innen einen nicht unerheblichen Teil ihrer Arbeitszeit damit beschäftigt sind, Menschen mit überflüssigen Untersuchungen Ängste zu nehmen, die sie ohne den Medizinbetrieb gar nicht hätten. Und weil sie dabei erhobene Befunde kontrollieren, die sich ohne die überflüssige Diagnostik nie auf das Leben der Patient:innen ausgewirkt hätten.

Dem Hausarzt wird bei solchen dystopischen Spekulationen ganz schwummerig. Ein leichter Schwindel, Übelkeit? Hoffentlich ist es kein Krebs! Es kann so viel schiefgehen. Deshalb ist für ihn vor der Vorsorge nach der Vorsorge.