Udaya Rai, Gewerkschafter, im Gespräch über die Situation migrantischer Arbeiter in Südkorea

»Das Visasystem kann als ein System der Zwangsarbeit angesehen werden«

In Südkorea arbeiten Hunderttausende Menschen aus dem Ausland, meist unter prekären Bedingungen. Eine gewerkschaftliche Organisierung wird ihnen vom Staat erschwert. Ein Gespräch mit dem Gewerkschafts­vorsitzenden Udaya Rai über die Benachteiligung von migrantischen Arbeitern im Land.
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Wie lassen sich die Arbeitsbedingungen der migrantischen Arbeiter in Südkorea zusammenfassen?
Oftmals werden die Berufe der ausländischen Arbeiter als »3D« bezeichnet: »dirty, difficult, dangerous« (aus dem Japanischen »3K« für »kitanai, kiken, kitsui«, Anm. d. Red.). Ich möchte von »4D« sprechen und »deadly« hinzu­fügen. Während migrantische Arbeiter nur vier Prozent der südkoreanischen Arbeiterschaft ausmachen, beträgt ihr Anteil an arbeitsbedingten Todesfällen zwölf Prozent. Allein im Jahr 2022 gab es 119 Todesfälle aufgrund von Arbeitsunfällen unter Arbeitsmigranten. Seit 2008 gab es auch viele Suizide, mit 68 Fällen die meisten unter nepalesischen Staatsangehörigen.

Berichten zufolge haben Arbeiter im Agrarsektor keine angemessenen Hygiene- und Wohnbedingungen, insbesondere wenn die Temperaturen im Winter auf minus 20 Grad Celsius fallen. Ist die Situation auf den Bauernhöfen besonders ernst?
Ja, es gibt besondere Schwierigkeiten für migrantische Arbeiter im landwirtschaftlichen Sektor. Etwa 70 Prozent von ihnen leben in illegal errichteten Gebäuden, die meisten Hygieneeinrichtungen sind sehr schlecht. Aber auch in der Fertigungsindustrie ist es nicht viel besser. Über die Hälfte der Arbeiter lebt in Containern ohne angemessene Heizung und mit wenig Privatsphäre. Aufgrund mangelnder Alternativen müssen die Arbeiter monatlich bis zu 300.000 Won (etwa 210 Euro, Anm. d. Red.) Miete zahlen.

»Es steht zu befürchten, dass bei längeren Arbeitszeiten die Sterblichkeitsrate aufgrund von Überarbeitung und anderen Faktoren steigen könnte.«

Die Regierung kündigte Anfang 2023 eine Reform an, die die maximale wöchentliche Arbeitszeit von 52 auf 69 Stunden erhöhen sollte. Wegen des starken Widerstands zog sie sich aber auf »Flexibilisierung in bestimmten Branchen«, beispielsweise der verarbeitenden Industrie, zurück. Betrifft das die Situation der ausländischen Arbeitskräfte?
Ja, deren Lage wird sich noch verschlechtern. Es steht zu befürchten, dass bei längeren Arbeitszeiten die Sterblichkeitsrate aufgrund von Überarbeitung und anderen Faktoren steigen könnte. Zusätzliche Arbeit ermöglicht es, mehr Geld zu verdienen, beeinträchtigt aber die Gesundheit.

Wie steht es um Arbeitsvisa?
Es hängt stark von der Art des Visums ab. Von den insgesamt 1,3 Millionen ausländischen Arbeitern in Südkorea kommt ein Großteil über das Employment Permit System (EPS) aus 16 ost- und südostasiatischen Ländern. Dieses Visum erlaubt in der Regel einen Aufenthalt von drei Jahren, mit der Möglichkeit einer Verlängerung um ein Jahr und zehn Monate. Mit diesem Visum ist es schwer, den Arbeitsplatz ohne die Zustimmung der Firma zu wechseln.
Ein ungenehmigter Wechsel führt zu illegalem Aufenthaltsstatus, was rund 420.000 Menschen betrifft. Um die Aufenthaltsdauer zu verlängern, müssen unangemessene Forderungen der Unternehmen erfüllt werden. Im Wesentlichen sind Arbeitsmigranten vom Zeitpunkt der Anstellung an von ihren Arbeitgebern abhängig. Dadurch wird es ihnen erschwert, Einwände gegen ihre Arbeitsbedingungen zu erheben oder nach einem anderen Arbeitsplatz mit besseren Bedingungen zu suchen. Das EPS kann als ein System der Zwangsarbeit betrachtet werden.

Südkorea ist der Staat mit der weltweit niedrigsten Geburtenrate. Es wird deshalb erwartet, dass die südkoreanische Wirtschaft in den kommenden Jahren verstärkt auf ausländische Arbeitskraft angewiesen sein wird. Ist das eine Gelegenheit, gewerkschaftlich zu mobilisieren, etwa zu einem Generalstreik?
Im Jahr 2023 haben 120.000 Migranten eine Arbeit in Südkorea aufgenommen, 2024 sollen es 165.000 sein. Daher könnten sich mehr Menschen zusammenschließen, die Macht der Migrants Trade Union (MTU) könnte ebenfalls wachsen. Das betrachten wir eher als natürlichen Prozess denn als spezielle Gelegenheit. Wenn wir gut organisiert einen Generalstreik durchführen, könnte dies zu einer erheblichen Veränderung für Arbeiter führen. Allerdings ist es derzeit aufgrund der Tatsache, dass ausländische Arbeiter in den Betrieben keine Mehrheit darstellen, schwierig, einen Streik durchzusetzen.

Was sind die bedeutendsten Errungenschaften der MTU?
Der größte Erfolg bisher ist zweifellos, dass sie die Gesellschaft und die Regierung auf die Lage ausländischer Arbeiter aufmerksam gemacht hat. Außerdem hat die MTU mehrere kleine Veränderungen erreicht, um Arbeitsbedingungen zu verbessern, wie Anpassungen im Visasystem. Jüngst wurde eine neue Richtlinie für Unterkunftskosten verabschiedet, mit der übermäßig hohe Mieten für überfüllte Unterkünfte verhindert werden könnten, indem die Mieten nicht mehr pro Person berechnet werden, die in einem Raum leben, sondern auf dem vermieteten Raum basieren.

In Südkorea ist staatliche Repres­sion gegen Gewerkschaften nicht unüblich. Um den legalen Status einer Gewerkschaft zu erlangen, musste die MTU zehn Jahre lang juristisch kämpfen. Gibt es noch ­immer Einschränkungen bei ihren Aktivitäten?
In der Vergangenheit wurden Arbeiter während Streiks festgenommen. Das ist mittlerweile seltener, aber es gibt andere Arten der Einmischung in die Gewerkschaftsarbeit oder die Teilnahme an Versammlungen. Zum Beispiel organisieren Unternehmen eigene Veranstaltungen an Protesttagen, um zu verhindern, dass Arbeiter teilnehmen können. Dolmetscher der Unternehmen erzählen den Arbeitern, dass sie Versammlungen nicht besuchen sollten. Und sie werden überwacht.

»Die Regierung plant, die Rechte der Arbeitsmigranten einzuschränken und auch ihre Löhne zu kürzen.«

Bei der Einwanderung wird empfohlen, sich keiner Gewerkschaft anzuschließen, so dass die meisten migrantischen Arbeiter fürchten, bei Bekanntwerden ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit keine Visumsverlängerung zu erhalten. Außerdem kann es passieren, dass sie Überstunden nicht bezahlt bekommen und öffentlich von ihren Vorgesetzten schikaniert werden. Daher treten nur 0,1 Prozent von ihnen aus eigener Initiative einer Gewerkschaft bei.

Ihr Vorgänger, der Philippiner ­Michel Catuira, wurde zusammen mit weiteren MTU-Führern ausgewiesen. Könnte das auch Ihnen passieren?
Ohne mein Ehegattenvisum wäre eine Rückkehr nach Südkorea nicht möglich gewesen. Aber ich habe immer noch keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Bei der Ablehnung meines Antrags hierauf wurden meine Aktivitäten in der Gewerkschaft erwähnt.

Kürzlich hat Präsident Yoon Suk-yeol vorgeschlagen, Lohnunterschiede zwischen aus- und inländischen Arbeitern zu erlauben, was ein Verstoß gegen die Konvention Nr. 111 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen wäre, die vor Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf schützen soll. Südkorea gehört bereits zu den OECD-Ländern mit den größten Lohnunterschieden zwischen ausländischen und inländischen Arbeitnehmern. Was kann die MTU dagegen tun?
Im Dezember haben wir anlässlich des internationalen Tags der migrantischen Arbeiter eine Versammlung abgehalten und eine Protestrede gehalten. Die Regierung plant, die Rechte der Arbeitsmigranten einzuschränken und auch ihre Löhne zu kürzen. Wir möchten darüber informieren, dass auch der Präsident solche Aussagen tätigt, und so die Arbeiter ermutigen, sich zu organisieren und dagegen anzukämpfen.

Hoffen Sie auf Unterstützung anderer Gewerkschaften oder der ILO?
Ich hoffe darauf, dass die ILO in Bezug auf die Rechte der migrantischen Arbeiter in Südkorea, insbesondere im Zusammenhang mit dem EPS-Visum­system, mehr Druck auf die Regierung ausübt und entsprechende Empfehlungen ausspricht.

Was sind die wichtigsten Ziele der MTU in der Zukunft?
Unser Ziel ist es, eine Gesellschaft zu schaffen, in der alle Arbeiter in Süd­korea ohne Diskriminierung die gleichen Menschen- und Arbeitsrechte teilen. Derzeit konzentrieren wir uns auf einige Schlüsselfragen, wie die Umstellung vom System einer Beschäftigungsgenehmigung für ausländische Arbeiter, dem EPS, auf eines der Arbeitserlaubnis, um ihnen die freie Auswahl und den Wechsel ihres Arbeitsplatzes zu ermöglichen.
Wir möchten auch sicherstellen, dass Arbeitsmigranten in der Landwirtschaft und Fischerei Urlaub und Überstundenvergütung erhalten. Drittens setzen wir uns dafür ein, die Diskriminierung bei Abfindungszahlungen zu beenden. In Südkorea erhalten Arbeiter eine Abfindung zum Ende eines Beschäftigungsverhältnisses. Rechtlich gesehen sollten alle ihre Zahlungen innerhalb von 14 Tagen erhalten, aber Migranten erhalten sie erst, wenn sie das Land verlassen. Außerdem kämpfen wir dafür, dass alle migrantischen Arbeiter ihren Lohn erhalten, denn jährlich werden 120 Milliarden Won (83 Millionen Euro, Anm. d. Red.) nicht ausgezahlt.
Wir streben auch eine Verbesserung bei der Krankenversicherung an. In Unternehmen mit weniger als fünf Mitarbeitern gibt es meist keine betriebliche Versicherung, daher müssen migrantische Arbeiter eine regionale Ver­sicherung abschließen. Die festgelegte Prämie beträgt 141.000 Won (100 Euro), das ist für migrantische Arbeiter mit einem Mindestlohn von etwa zwei Millionen Won (1.400 EUR) viel zu hoch.

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Udaya Rai

Udaya Rai

Bild:
privat

Udaya Rai stammt aus Nepal und war dort Student und Farmarbeiter. Dann arbeitete er in Südkorea in unterschiedlichen Berufen, bis er 2004 das Land verlassen musste. Da er eine Koreanerin geheiratet hatte, konnte er 2007 mit einem Ehegattenvisum zurück nach Südkorea ziehen. Seit 2009 ist er Mitglied der Migrants Trade Union (MTU) und seit 2014 deren Vorsitzender. Die MTU hat sich 2001 im zweitgrößten südkoreanischen Gewerkschaftsbund, der Korean Confederation of Trade Unions, gegründet und ist für die spezifischen Probleme migrantischer Arbeiter zuständig. Die MTU hat 2.000 Mitglieder, von denen sich 700 derzeit im Land befinden.