Algerische Oppositionelle diskutieren in Paris über die Situation fünf Jahre nach dem Auftakt des Hirak

Algerien: Fünf Jahre nach Beginn der Demokratiebewegung

In Paris trafen sich am Wochenende Organisationen der algerischen Opposition und diskutierten über die Zukunft der Proteste gegen das Regime in dem nordafrikanischen Land.

Paris. Fünf Jahre ist es her, dass eine algerische Revolte beeindruckende Bilder um die Welt sandte. Millionen Menschen gingen in dem nordafrikanischen Land ab dem 22. Februar 2019 wochenlang auf die Straße, um die fünfte Kandidatur und damit die Wiederwahl des langjährigen Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika zu verhindern – und erzwangen dessen Rücktritt.

Die als Hirak – eine Dialektform des arabischen Begriffs harakat für Bewegung – bezeichneten Proteste gingen auch nach dem Rücktritt weiter und forderten eine weitreichende Demokratisierung des Lands sowie die Entmachtung der hinter Bouteflika stehenden Machtclique. Die Proteste dauerten rund ein Jahr, bis im Frühjahr 2020 die Machthaber die günstige Gelegenheit der Covid-19-Pandemie nutzten, um mittels Ausgangssperren die Proteste abzuwürgen. Ein Versuch der Wiederbelebung der Bewegung im Frühjahr 2021 scheiterte. Zumindest für ein Jahr aber hatten viele Algerier die Furcht vor Repression, Berufsverbot und Drangsalierung abgeschüttelt.

Die Repression hat dennoch ihre Wirkung entfaltet. Zwischen 300 und 350 »Meinungsgefangene«, also politische Häftlinge, die keine Gewalt zur Verfolgung ihrer Ziele eingesetzt hatten, zählte das Land auf dem Höhepunkt der Repression 2021/2022. Die Mehrzahl hat inzwischen die oft ein- bis dreijährigen Haftstrafen verbüßt. Von ihnen wurden 160 bei verschiedenen Gelegenheiten vorzeitig begnadigt, 107 kamen seit Anfang 2023 ohne Gnadenakt frei.

Der Hirak dauerte rund ein Jahr, bis im Frühjahr 2020 die Machthaber die Pandemie nutzten, um mit Ausgangssperren die Protestbewegung abzuwürgen.

Brahimi Laalami sitzt hingegen immer noch ein. Der Schneider war als einer der Ersten, einige Tage vor dem Beginn der Massenbewegung im Februar 2019, in der Stadt Bordj Bou Arreridj allein mit seinem Transparent gegen Bouteflika auf die Straße gegangen. Seine erste Haftstrafe wegen »Präsidentenbeleidigung« endete 2020 mit einer vorzeitigen Entlassung. Laalami versuchte, außer Landes zu fliehen, und überquerte im Juni 2021 auf einem Boot das Mittelmeer. Im Rahmen eines illegalen Pushbacks schickten ihn die spanischen Behörden zurück und übergaben ihn den algerischen Behörden. Im vergangenen Jahr wurde er wegen des Vorwurfs von Drogendelikten, den er vehement bestreitet, zu acht Jahren Haft verurteilt.

Ebenfalls zum fünften Mal jährt sich im kommenden Dezember die Präsidentschaftswahl, mittels derer das algerische Regime sich damals wenige Monate nach der abgebrochenen, durch den Rückzug Bouteflikas notgedrungen verschobenen Wahl zu konsolidieren versuchte. Auch nach offiziellen, eventuell übertriebenen Angaben hatten sich an jenem 12. Dezember 2019 nur knapp unter 40 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt.

Nach offiziellen Angaben gewann Abdelmadjid Tebboune mit 58 Prozent der Stimmen. Im Dezember dürfte er erneut zur Präsidentschaftswahl antreten; er wird dann 79 Jahre alt sein. Bereits jetzt spaltet die Frage die Opposition, ob man sich an einer Wahl beteiligen solle, die viele in ihren Reihen als abgekartetes Plebiszit zur formal-demokratischen Legitimation des Regimes betrachten.

Darüber debattierten am Samstag die Vertreter von vier algerischen Oppositionsparteien mit denen von acht Nichtregierungsorganisationen und Vereinigungen der Zivilgesellschaft in einem als Kulturzentrum fungierenden Hafengebäude im Bereich des Pariser Seine-Hafens. In Algerien wäre dies so nicht möglich gewesen. Dort erlaubt es das Parteiengesetz den zugelassenen politischen Parteien zwar, interne Versammlungen an ihrem jeweiligen Hauptsitz abzuhalten – dort andere Organisationen, beispielsweise Gewerkschaften oder Menschenrechtsvereinigungen, zu empfangen, ist ihnen jedoch verboten.

Und so diskutierten mehrere offiziell entsandte Vertreterinnen und Vertreter der Union für den Wechsel und den Fortschritt (UCP) sowie der beiden berberisch geprägten Parteien RCD (Sammlung für Kultur und Demokratie; gemeint ist vor allem die Verteidigung der Berberkultur) und FFS (Front der sozialistischen Kräfte). Letztere ist Mitglied der Sozialistischen Internationale (SI), des weltweiten Zusammenschlusses sozialdemokratischer Parteien.

Aus Sicherheitsgründen nicht offiziell, jedoch faktisch vertreten war die kleine Sozialistische Arbeiterpartei (PST). Die aus dem undogmatischen Trotzkismus kommende Organisation ist seit Januar 2022 vom algerischen Conseil d‘État, dem obersten Gerichtshof im Bereich des Verwaltungs- und öffentlichen Rechts, »suspendiert« worden, wie es amtlich hieß; ihre Betätigung ist verboten und ihre Räumlichkeiten sind beschlagnahmt worden. Grund dafür ist ihre aktive Beteiligung an der Protestbewegung seit 2019.

Einen ähnlichen Antrag des Innenministeriums gegen die UCP lehnte der Conseil d‘État am selben Tag ab. Seit Februar 2023 wurde einer weiteren kleinen linken Partei die aktive politische Betätigung untersagt, nämlich dem aus der früheren prosowjetischen KP hervorgegangenen MDS (Demokratische und soziale Bewegung).

Um die unabhängigen Gewerkschaften steht es derzeit nicht zum Besten, wegen der anhaltenden Zwangsmaßnahmen und Einschränkungen können sie sich kaum betätigen.

Derzeit strebt vor allem die UCP eine Teilnahme an der kommenden Wahl an. Der Partei steht Zoubida Assoul vor, eine 1956 geborene frühere Familienrichterin, die heutzutage als Anwältin tätig ist. Einer der UCP-Vertreter sagte auf der Tagung, dass es, möchte man Aussichten auf einen demokratischen Machtwechsel haben, erforderlich sei, ausreichend Basisaktivisten zu mobilisieren, um »die insgesamt 53.135 Wahllokale im Land zwölf Stunden lang zu überwachen«. Werde diese Voraussetzung erfüllt, könne man das Regime darüber zu Fall bringen. Andere Teilnehmerinnen und Organisationen hielten das für illusorisch. Sie glauben nicht an eine Mobilisierung am Jahresende, solange die meisten Medien und Veranstaltungsorte der Opposition verschlossen bleiben.

FFS-Vertreter legten entsprechend geringen Enthusiasmus für eine Wahlteilnahme an den Tag; ebenso die anwesenden Sprecher des PST. Der RCD nahm eine Zwischenposition ein: Er formulierte Bedingungen für eine Wahlteilnahme, wie die Gewährleistung eines echten Medienpluralismus, ohne dabei eine Strategie zu ihrer Durchsetzung zu benennen.

Teilnehmer im Saal monierten, dass die Rolle von sozialen Organisationen wie unabhängigen Gewerkschaften in der Opposition unterschätzt werde – der Ausdruck syndicats autonomes bezeichnet jene Beschäftigtenorganisationen, die außerhalb des staatsabhängigen Gewerkschaftsdachverbands UGTA stehen, dessen Spitze bis zuletzt Bouteflika unterstützt hatte.

Um die unabhängigen Gewerkschaften steht es derzeit nicht zum Besten, wegen der anhaltenden Zwangsmaßnahmen und Einschränkungen können sie sich kaum betätigen. Vor allem aber haben sie es nicht vermocht, die Protestbewegung von 2019 entscheidend zu prägen. Wie der informell für seine Partei sprechende PST-Vertreter am Samstag formulierte, nahmen »abhängig Beschäftigte zwar zusammen in vielen Städten an den Demonstrationen teil, jedoch meist nicht unter eigenen Losungen und nicht unter den Fahnen ihrer Gewerkschaften«. Viele ordneten sich in eine Protestbewegung ein, die sich in ihrer Mehrheit als demokratisch und zugleich klassenübergreifend verstand.