Die Bauernproteste in ­Frankreich werden wütender

Mal rechts, mal links

In Frankreich eskalieren die Bauernproteste. Organisiert werden sie vom konservativen Bauernverband FNSEA, der stramm rechten Coordination rurale und der linken Confédération paysanne.

Paris. »Man antwortet nicht auf Leiden, indem man Bereitschaftspolizisten ausschickt.« Diese aus seinem Munde ­ungewöhnlichen Worte kamen am Donnerstag voriger Woche vom französischen Innenminister Gérald Darmanin. Er rechtfertigte damit in den Abendnachrichten des Fernsehsenders TF1, dass die staatlichen Ordnungskräfte bis dahin bei den Bauernprotesten nicht interveniert hatten, obwohl beispielsweise im südwestfranzösischen Agen am Tag zuvor ein Feuer mit brennenden Reifen vor der Präfektur – der Vertretung des französischen Zentralstaats im Département Lot-et-Garonne – entzündet worden war.

Am Montag hingegen war der Innenminister tunlichst bemüht, nichts anbrennen zu lassen, und schickte 15.000 Angehörige von Polizei und Gendarmerie in den Einsatz. Ab 14 Uhr wollten erzürnte Landwirtinnen und Landwirte, so hatten sie es im Laufe des Wochenendes angekündigt, »Paris blockieren«.

Vor allem geht es dabei um den Großmarkt von Rungis in der südlichen ­Pariser Vorstadtzone, den weltweit größten Frischmarkt, auf dem Grossisten aus dem Gastronomiegewerbe und dem Lebensmittelvertrieb sich mit Nahrungsmitteln eindecken. Eine Traktorkolonne aus Südwestfrankreich, wo die Proteste ihren Ausgang genommen hatten und im landesweiten Vergleich die bäuerlichen Einkommen am niedrigsten liegen, rollte seit Montag auf Paris beziehungsweise Rungis zu. In der Nacht zum Dienstag durchquerte der zu diesem Zeitpunkt sieben Kilometer lange Konvoi Limoges. Am Dienstagmorgen versuchte die Polizei, den Weg der Kolonne auf der Autobahn zu blockieren, doch die Landwirte drückten Leitplanken flach und rollten einfach auf anderen Straßen weiter Richtung Norden.

Landwirte der Confédération paysanne attackierten am Montag in Südfrankreich Lager der deutschen Supermarktketten Aldi und Lidl.

1950 war in Frankreich noch ein Drittel der Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft tätig – in der BRD war es damals nur knapp ein Viertel –, zu Anfang der achtziger Jahre waren es immer noch über zehn Prozent. Heutzutage sind in Frankreich nur noch 2,5 Prozent der Erwerbsbevölkerung im Agrarsektor tätig, rund 700.000 Menschen, davon arbeiten 400.000 ausschließlich als Landwirte. Wesentlich größer, als dieser geringe Anteil es vermuten lassen könnte, ist allerdings die gesellschaftliche Bedeutung dieser Berufsgruppe. Die Nahrungsmittelproduktion ist die Grundlage aller weiteren Produktion, und wo die inländische Landwirtschaft nicht mehr ausreichend produziert, tut es eben die in anderen Staaten. Zudem weisen fast alle Franzosen, geht man zwei Generationen zurück, mindestens einen bäuerlichen Vorfahren auf, so dass die Identifikation allgemein stark ist.

In der Getreideproduktion, aber auch im Bereich der gehobenen Weinproduktion mit ihren bekannten Marken gibt es durchaus wohlhabende Produzenten. Zugleich wurden die weniger Wohlhabenden unter den Bauern wie auch den Winzer – vor allem in Südwestfrankreich – in materielle Verelendung getrieben. Im Jahr 2021 verdiente ein bäuerlicher Haushalt dem staatlichen Statistikamt INSEE zufolge durchschnittlich nur 17.700 Euro aus landwirtschaftlicher Tätigkeit, dagegen 30.100 aus dem Nebenverdienst – in Wirklichkeit mittlerweile Hauptverdienst –, den in der Regel die Ehegattin aus einer anderen Tätigkeit bezieht. ­Innerhalb von 30 Jahren ist das durchschnittliche Nettoeinkommen aus landwirtschaftlicher Tätigkeit um 40 Prozent gesunken.

Für Abhilfe sorgen und das Marktgeschehen regulieren sollte ein Gesetz vom Oktober 2018, die »loi Egalim«. Es erlaubt nach wie vor Einkaufspreise für Nahrungsmittel unterhalb ihrer Herstellungskosten – wie sie die Einkaufszentralen von Supermarktketten mitunter Landwirten aufzwingen, die mitspielen müssen, weil sie sich der Marktmacht ihrer Partner nicht entziehen können und in deren Vertriebsnetz bleiben wollen. Es beschränkt An- und Verkauf von Lebensmitteln unter dem Herstellungswert allerdings auf zehn Prozent des Gesamtvolumens. Ferner sollen Schulkantinen und andere öffentliche Einrichtungen mindestens 50 Prozent »nachhaltig« hergestellte Produkte, in der Regel aus regionalem Anbau, anbieten.

Mangels auch nur halbwegs ernstzunehmender Kontrollen werden die Vorschriften jedoch flächendeckend umgangen, wie inzwischen auch das Regierungslager einräumt. Selbst die Schulverwaltungen beteiligen sich daran, zwei Drittel des Rindfleischs in Schulkantinen sind Importfleisch. Und Supermarktketten umgehen Kontrollen ihrer Einkaufspolitik, indem sie beispielsweise ihre Einkaufzentralen im nahen EU-Ausland einrichten, wo es keine vergleichbaren Gesetze gibt: die Supermarktkette Carrefour beispielsweise mit Eureca in Spanien, die Ketten von Système U in Belgien mit Eurelec. Und dieser Prozess der Europäisierung des Einkaufs geht weiter, Einkaufskooperationen mit großen Ketten aus Deutschland und Italien sind in den vergangenen Jahren entstanden.

Auch aus diesem Grund attackierten Landwirte, in diesem Falle Mitglieder der linken Bauernvereinigung Confédération paysanne, am Montag in den südfranzösischen Städten Beaucaire und Cavaillon Lager der deutschen Supermarktketten Aldi und Lidl.

Hinzu kommt, dass einige Umweltauf­lagen in Frankreich etwas strenger ausfallen als in vielen anderen EU-Staaten, seit die Grünen unter der Präsidentschaft des Sozialdemokraten François Hollande von 2012 bis 2017 mitregierten. EU-weit sind gut 300 Substanzen, darunter bestimmte Pestizide, verboten, in Frankreich gut 400 – was das EU-Recht zulässt, da EU-Normen nur einen Mindeststandard bilden. Nach Angaben der Verbraucherschutzorga­nisation Union fédérale des consommateurs (Motto: »Que choisir«, zu Deutsch: was aussuchen) sind Gurken aus französischer Herstellung zu 34 Prozent, Birnen bis zu 80 Prozent mit Pestizidrückständen behaftet, ­Gurken aus spanischer Produktion dagegen zu 83 Prozent und Birnen zu 100 Prozent.

Grundsätzlich sind mehrere Auswege aus der Misere möglich. Eine Option ist, Barrieren auf dem Weg zu günstigerer Produktion auch in Frankreich zu beseitigen, zum Beispiel Umweltnormen, und dadurch konkurrenzfähiger zu werden. Die fortschrittlichere Herangehensweise bestünde darin, zwar nicht einen generellen Protektionismus zugunsten sogenannter nationaler Interessen zu betreiben, wohl aber an Produktionsbedingungen orientierte Normen zu gezielten Importbeschränkungen und -verboten durchzusetzen sowie Mindestverkaufspreise für Lebensmittel festzulegen. Dies widerspricht allerdings der bisherigen Wirtschaftspolitik, denn diese läuft darauf hinaus, die Reallohnverluste vieler abhängig Beschäftigter zu kaschieren, indem vielerlei Konsumartikel zu Billigpreisen zur Verfügung gestellt werden.

Zu den ersten Zugeständnissen, die die französische Regierung am Freitag voriger Woche ankündigte, zählte der Verzicht auf die zuvor – wie in Deutschland – geplante Abschaffung der Steuervergünstigung für Agrardiesel. Dies stellte die Landwirte und ihre Verbände aber keineswegs zufrieden, handelt es sich dabei doch lediglich um die Aussetzung einer künftigen Verschlechterung. Für viele geht es bereits jetzt um die nackte ökonomische Existenz. Ferner stellte Premierminister Gabriel Attal, der am Vortag demonstrativ ein Interview auf einer Barrikade gegeben und sein Redemanuskript kamerawirksam auf Strohballen ausgebreitet hatte, eine »Schockwelle der Vereinfachung von Normen« in Aussicht.

Es ist daher zu befürchten, dass das Regierungslager letztlich die Proteste nutzen könnte, um die Verhandlungen mit den Bauernorganisationen dafür zu nutzen, ökologische Regulierungen abzuschaffen. Dabei könnte sie tendenziell auch die konservativen bis extrem rechten Bauernverbände in einen bedingten Konsens einbinden.

Zu den ersten Zugeständnissen, die die französische Regierung am Freitag voriger Woche ankündigte, zählte der Verzicht auf die zuvor – wie in Deutschland – geplante Abschaffung der Steuervergünstigung für Agrardiesel.

Unter diesen Organisationen ist die mit Abstand stärkste die FNSEA, die rund 55 Prozent der Stimmen in den Landwirtschaftskammern vertritt. Sie ist ein konservativer Interessenverband. Hier tritt man vor allem für das Schleifen von lästigen Normen wie Umweltvorschriften, für den sogenannten Bürokratieabbau und Exporterleichterungen ein. Ähnliche Forderungen mit besonderer Stoßrichtung gegen »bürokratische Normen« und ökologische Auflagen vertritt die Coordination rurale, die allerdings im Vergleich zur FNSEA weniger arrivierte, ökonomisch schlechter gestellte Segmente unter den Agrarproduzenten vertritt. Diese Vereinigung, die bei den jüngsten Landwirtschaftskammerwahlen 2019 gut 20 Prozent erhielt, gilt als stramm rechts und eng verbandelt mit dem Rassemblement national. Fast gleich stark ist mit 19 Prozent der Stimmen unter den Landwirten die linke und eher ökologisch orientierte Confédération paysanne.

Zunächst trugen vor allem die FNSEA und die Coordination rurale die Proteste, die sich daher nicht zuletzt gegen ökologische Forderungen richteten. Im westfranzösischen Saintes griffen protestierende, eher reaktionäre Landwirte am Freitag voriger Woche sogar ein Gebäude des Fischereiverbands an, weil dessen Mitglieder seit längerem gegen die Einleitung schädlicher Abwässer durch mehrere Landwirtschaftsbetriebe protestierten. Auch fanden an mehrere Orten gezielte Aktionen gegen ausländische Waren statt, zum Beispiel gegen spanisches sowie marokkanisches Obst und Gemüse, das Bauern bei LKW-Kontrollen wie in Montélimar aus den Lastwagen geholt und ausgeschüttet oder vernichtet hatten.

Mit erklärtermaßen anderen Zielen klinkte sich seit Ende voriger Woche die Confédération paysanne in die Bauernproteste ein. Ihre Mitglieder versäumen es vor laufenden Kameras nie, darauf hinzuweisen, dass nicht alle ihre Forderungen identisch mit denen der übrigen Bauernverbände seien. Die Confédération will vor allem die Einkommen der Landwirte verbessern, unter anderem durch garantierte Mindestabnahmepreisen.