Der Skandal um das Postamt
London. Seit Beginn des neuen Jahres diskutiert Großbritannien die skandalösen Folgen der fehlerhaften Buchhaltungssoftware Horizon des global agierenden japanischen Technologiekonzerns Fujitsu, die in britischen Postämtern seit 1999 in Verwendung ist. Ein Vierteiler unter dem Titel »Mr Bates vs The Post Office« des britischen Fernsehsenders ITV, der Anfang Januar ausgestrahlt wurde, hatte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die lange schwelende Geschichte gelenkt.Bugs in der Software hatten bei Hunderten von Postämtern zu einer Fehlkalkulation von Einnahmen und Ausgaben in den turnusmäßigen Abrechnungen geführt, was meist fälschlich nahelegte, die Betreiber hätten Geld unterschlagen.
Vielen Betreibern von Postämtern, oft Selbständigen, die die Filialen als Teil von kleinen Lebensmittelläden oder Cafés betrieben, fiel dies auf, in einigen Fällen bereits in den frühen nuller Jahren. Doch die vielen Versuche, beim Software Support des staatlichen Unternehmens Post Office Limited Hilfe zu bekommen, schlugen samt und sonders fehl. Das Unternehmen begann, wie später nachgewiesen werden konnte, systematisch zu lügen und zu verschleiern.
Bugs in der Software hatten bei Hunderten von Postämtern zu Fehlkalkulationen geführt, was meist fälschlich nahelegte, die Betreiber hätten Geld unterschlagen.
Betreibern von Filialen teilte die Unternehmensseite mit, sie seien die Einzigen, die über Probleme mit der Software berichteten. Auch eine Änderung von Einträgen durch Dritte sei unmöglich, hieß es. Den Betreibern wurde nahegelegt, etwaige Fehlbeträge selbst auszugleichen, um Probleme und Bestrafung zu vermeiden. In den Verträgen der Betreiber war eindeutig geregelt, dass sie für etwaiges fehlendes Geld in den Abrechnungen ihrer Geschäfte verantwortlich seien. Hunderte, möglicherweise sogar Tausende der Betreiber verwendeten ihr eigenes Geld, um die fehlerhaften Bilanzen auszugleichen.
Weigerten sich Betreiber, ihre aufgrund von Systemfehlern unstimmigen Abrechnungen zu unterschreiben, wurde ihnen der Vertrag gekündigt. Weigerten sie sich, Fehlbeträge zu zahlen, wurden sie wegen Veruntreuung und Betrug vom Post Office angezeigt. Über 900 freiberufliche Betreiber von Postämtern wurden zwischen 2002 und 2015 verurteilt, teilweise zu Gefängnisstrafen, oft zu erheblichen Geldstrafen. Viele verloren ihre gesamten Ersparnisse und mussten den Bankrott erklären. Einige begingen Selbstmord, viele trugen erhebliche psychische Schäden davon, nicht zuletzt aufgrund von Presseberichten, in denen die Geschichten von den angeblich unlauteren Postbetreibern häufig ausgeschlachtet wurden.
Die Häme, die manchen verurteilten Betreibern zunächst entgegenschlug, erklärt sich durch die besondere institutionelle Stellung, aber auch emotionale Rolle des Postamts in der britischen Gesellschaft. Ein Post Office gibt es fast in jeder Kommune und Nachbarschaft, das Vertrauen in die Redlichkeit des Postamtsbetreibers spielt eine zentrale Rolle. Die Ursprünge dessen liegen in früher wichtigen Aufgaben wie der Ausgabe der wöchentlichen Rentenschecks, was heutzutage nur mehr diejenigen Pensionäre in Anspruch nehmen, die kein Bankkonto haben.
Die Entwickler von Fujitsu, das 1999 über eine Milliarde Pfund mit dem Verkauf von Horizon verdiente, wussten um die Schwächen des Systems.
Viele Briten nutzen das Postamt auch, um ihre Pässe oder Führerscheine zu erneuern oder um in Vorbereitung auf eine Urlaubsreise Geld zu tauschen. Seit Jahren sind viele dieser Dienstleistungen auch online zu erhalten, doch dadurch, dass es Ämter noch in den kleinsten Dörfern gibt, sind sie immer mehr zu einer Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger geworden, die nicht alles online machen wollen oder können. Wegen dieser administrativen Aufgaben ist das Post Office bisher nicht privatisiert worden, anders als der Briefservice, der unter seinem hergebrachten Namen Royal Mail seit 2012 privatwirtschaftlich operiert, und der Paketservice.
Doch hat auch die staatseigene Firma über Jahre versucht, Kosten zu reduzieren und effizienter zu arbeiten. Eine der Folgen ist, dass heutzutage über 9.000 der 11.000 britischen Postämter von freiberuflichen sogenannten subpostmasters betrieben werden und nicht von Angestellten. Auch die Einführung der Software Horizon, die zunächst entwickelt wurde, um britische Sozialleistungen auszuzahlen, war ein Versuch, den Betrieb effizienter zu gestalten.
Die Entwickler von Fujitsu, das 1999 über eine Milliarde Pfund mit dem Verkauf von Horizon verdiente, wussten um die Schwächen des Systems, ließen darüber aber nichts verlauten, auch wenn die Post öffentlich und in Gerichtsverfahren behauptete, das System sei robust. Auch die juristisch besonders relevante Lüge der Post, dass Zugang zu den Einträgen der Betreiber durch Dritte unmöglich sei, worauf die meisten Verurteilungen basierten, hatte Fujitsu nie aufgedeckt, obwohl die Firma alle Terminals von ihrer Zentrale steuern und beeinflussen konnte.
Der Kampf der Postamtsbetreiber um die Aufklärung dieses Skandals war mühsam. Zunächst gab es wenig Interesse, doch im Mai 2009 griff Rebecca Thompson, eine Journalistin der Zeitschrift Computer Weekly, den Skandal auf; sie interviewte insgesamt fünf Betroffene, darunter Alan Bates, den späteren Titelhelden der ITV-Verfilmung, der bereits 2005 Computer Weekly und andere Medien kontaktiert hatte, die nach Thompsons Artikel ebenfalls begannen, die Angelegenheit zu thematisieren. Bates organisierte im September 2009 ein erstes Treffen von Betroffenen und sie gründeten die Initiative Gerechtigkeit für die Postamtsbetreiber (Justice for Subpostmasters Alliance, JSPA).
In den folgenden Jahren kämpften sich Bates und seine Mitstreiter durch das politische und juristische System Großbritanniens, mit wachsender Unterstützung durch einzelne Politiker und manche Presseorgane. Ein ehemaliger Mitarbeiter von Fujitsu erklärte sich bereit, die falschen Darstellungen der Post auch vor Gericht zu widerlegen, so dass es Bates und 550 Mitstreitern 2019 gelang, von der Post Entschädigung einzuklagen. 2021 wurden auf Grundlage der in diesem Verfahren gesammelten Beweise in einem Revisionsverfahren die ersten 20 Urteile gegen Postamtsbetreiber aufgehoben.
Vorige Woche kündigte Premierminister Rishi Sunak ein neues Gesetz an, mit dem die Regierung rechtskräftige Gerichtsurteile wegen Betrug und Veruntreuung für die 900 freiberuflichen Betreiber von Postämtern aufheben will.
Die erfolgreiche Dramatisierung der Geschichte hat nun eine weitere Runde politischer und juristischer Aufarbeitung ausgelöst. Vorige Woche kündigte Premierminister Rishi Sunak ein neues Gesetz an, mit dem die Regierung rechtskräftige Gerichtsurteile wegen Betrug und Veruntreuung für die 900 freiberuflichen Betreiber von Postämtern aufheben will – ein Schritt, den einige Rechtsexperten für problematisch halten, weil damit die Gewaltenteilung umgangen würde. Weitere Revisionsverfahren, die auch für die Regierung noch mehr peinliche Enthüllungen bringen könnte, würden so indes unnötig.
Zudem hat die Regierung einen milliardenschweren Entschädigungsfonds für Betroffene initiiert. Die ehemalige Geschäftsführerin des Post Office’ Paula Vennells, gab ihren 2019 verliehenen Staatsorden zurück, nachdem über eine Million Briten eine Petition gegen sie unterschrieben hatten. Einer der beiden Europa-Direktoren von Fujitsu, Paul Patterson, kündigte an, dass sich Fujitsu zunächst nicht mehr für britische Regierungsaufträge bewerben werde. Auch sei man bereit, einen Anteil am Entschädigungsfonds zu tragen.
Geld dafür sollte Fujitsu genug haben. Seit dem 2019 von Bates erstrittenen Urteil hat die Regierung Aufträge im Wert von über 4,4 Milliarden Pfund an Fujitsu vergeben.