Mickaël Labbé vermisst in der gentrifizierten Stadt das Urbane

Verbaute Chancen

Die Städte den Menschen, die dort wohnen, fordert der Philosoph Mickaël Labbé. In seiner Streitschrift »Platz nehmen« wendet er sich gegen eine Architektur, die bestimmte Bevölkerungsgruppen aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Ideen für eine inklusive Stadt hat der Autor auch.

Die Städte verlieren ihren Charakter als Stadt, warnt Mickaël Labbé, Professor für Ästhetik und Philosophie der Kunst an der Philosophischen Fakultät der Universität Straßburg, in seiner Streitschrift »Platz nehmen. Gegen eine Architektur der Verachtung«. Im Anschluss an den französischen Soziologen Henri Lefebvre sieht er in Begegnungen und Zusammenkünften oft ungleicher Interessen die Besonderheit des urbanen Lebens, eine Qualität, die den urbanen vom ruralen Raum unterscheidet. Wenn die kollektiv genutzten und gestalteten Orte der Begegnung und des Austauschs verschwänden, gehe auch das Spezifische der Stadt verloren.

Angetrieben von einem Stadtmarketing, das auf Tourismus, Investoren und Immobilienmärkte ausgerichtet ist, würden die Bewohner und Bewohnerinnen zu bloßer Verdrängungsmasse. Steingewordener Ausdruck dieser Ideologie der Verdrängung sei eine »Architektur der Verachtung«, die dafür sorge, dass die Unerwünschten von öffentliche Plätzen, aus innerstädtischen Vierteln und Wohnquartieren ausgrenzt werden. Labbé fordert, dass Städte wieder für Menschen, nicht für Käufer und Konsumenten gestaltet werden.

Der ländliche Raum hat eigene Muster des Ausschlusses hervorgebracht. Labbé konzentriert sich aber auf die Kritik des städtischen Lebens, weil weltweit immer mehr Menschen in Städten leben und arbeiten. Das beschauliche Straßburg beispielsweise sei zwar ein perfekter Ort für Privilegierte (zu denen er sich selbst rechnet), aber gerade dort, wo sich Technoclubs, Biomärkte und Mikrobrauereien ansiedeln, mangele es an echter Urbanität.

»Nicht augenfällige Gewalt, sondern winzige Verschiebungen in der Physiognomie der Stadt bringen in Straßburg eine Architektur der Verachtung oder Nichtanerkennung und eine neue Karte urbaner Pathologien hervor.« Mickaël Labbé

Als Beispiel nennt er die Neugestaltung des Place d’Austerlitz, in deren Folge die Mieten stiegen und Verdrängung stattfand. »Keine Stadt und kein Stadtviertel«, so Labbé, »kann sich angesichts eines regelrechten Angriffs auf den gemeinschaftlichen Charakter von Orten noch unversehrt wähnen. Nicht augenfällige Gewalt, sondern winzige Verschiebungen in der Physiognomie der Stadt bringen in Straßburg eine Architektur der Verachtung oder Nichtanerkennung und eine neue Karte urbaner Pathologien hervor, die umso gefährlicher sind, als gerade ihr kaum wahrnehmbarer Charakter sie begünstigt.«

»Platz nehmen« schärft den Blick für die »verbaute Verachtung«. Damit sind nicht nur unästhetische Behausungen und Verschalungen gemeint, sondern auch ein Stadtmobiliar, das Menschen physisch abweist – zum Beispiel wenn im Boden Stacheln gegen das Lagern einge­lassen sind oder Noppen auf Geländern das Rutschen verhindern sollen. Eine solche Architektur sei Ausdruck einer verweigerten Anerkennung, kritisiert Labbé unter Bezugnahme auf den Sozialphilosophen Axel Honneth.

Diesem gilt Anerkennung als eine ethische Grundkategorie. Jedes Individuum, so Honneth, habe das Bedürfnis – und damit theoretisch das Recht – auf Anerkennung als Mensch. Gemeint ist damit nicht die juristische, sondern die soziale Bestätigung, das Gewähren von Unterstützung und das Wahren von Würde. Gesellschaftliche Anerkennung erfährt man grundlegend durch die Möglichkeit, dabei zu sein: Du darfst hier sein und partizipieren. Anerkennung sei ein Baustein von Gerechtigkeit. Dieser aber fehle in der heutigen Architektur, schreibt Labbé.

Im Buch werden drei Beispiele für den Entzug der Anerkennung durch architektonischer Verdrängungsmaßnahmen diskutiert. Das erste betrifft die sogenannte »defensive Architektur«, die unerwünschte Tätigkeiten unterbinden soll. Sie soll vor ­allem Wohnungslose aus dem Stadtbild drängen, etwa mit Bänken, die durch Armlehnen so unterteilt sind, dass man sich nicht auf sie legen kann.

Das zweite Beispiel betrifft den (Über-)Tourismus, der die Immobilienpreise in die Höhe treibt und die Eigenheiten der Destinationen missachtet. Man denke an Venedig oder Barcelona. An Orten wie diesen herrsche die Tendenz zur Uniformität. Alle Eigenarten, die Reisen eigentlich reizvoll machen, seien abgeschliffen, und die Einheimische seien eben nicht mehr heimisch.

Als drittes Beispiel nennt Labbé die Einkaufszentren. Shopping Malls sind halböffentliche Räume, sie kopieren Straßenzüge oder ganze Viertel. Es sind private Räume, die aber öffentlich genutzt werden können. Allerdings müssen sich die Besucher an die dort geltenden Verhaltens­regeln halten, die sie beim Eintritt in das Gebäude »abnicken«, zum Beispiel das Rauchverbot. Einkaufszentren imitieren den Marktplatz als ­öffentlichen Raum, sind aber privatwirtschaftlich kontrollierte Einrichtungen mit Zutrittverweigerungsrecht, in denen soziale und politische Aktionen nicht gestattet sind.

Willkommen ist allein die zahlende Kundschaft. Ungemütlich grell ausgeleuchtete Ecken, klassische Musik gegen Bettler vor Bahnhöfen, hohe Pieptöne, die Jugendliche vertreiben sollen – oft werden die Abweisungen von der Masse gar nicht bemerkt, lediglich die Betroffenen selbst ­verstehen direkt, dass sie nicht erwünscht sind.

Eingezäunte Wohnquartiere sind ein besonders anschauliches Beispiel für den Ausschluss unerwünschter Personen – Bettler, Wohnungslose oder Menschen ohne Kaufkraft. Eingeladen sind nur jene, die es sich leisten können, dort zu wohnen. Private Sicherheitsdienste signalisieren durch sichtbare Präsenz nicht nur Ordnung, sondern greifen bei unerwünschtem Verhalten ein, etwa wenn jemand auf dem Gelände herumlungert.

Solche Formen privater Bunker­architektur gehen zu Lasten des öffentlichen Raums als Freiraum und Kontaktzone, in dem sozialer Austausch – auch ungewollter – stattfinden kann. Der Raum müsse als Ak­tionsfläche für gesellschaftliche Prozesse allgemein und öffentlich zugänglich bleiben. Sämtliche Bewohner sollen hier in Interaktion und Kommunikation miteinander treten können, nicht nur exklusive Gruppen. Der miteinander geteilte Raum sei der gesellschaftliche Kitt, während die Segregation den Gesellschaftsvertrag, der dem städtischen Zusammenleben zugrunde liegt, brüchig werden lasse. Ohne die Möglichkeit, einander zu begegnen, entstehe ­weder Solidarität noch Empathie.

Mickaël Labbé

Mickaël Labbé ist Direktor der Philosophischen Fakultät der Universität Straßburg und hat dort den Lehrstuhl für Ästhetik und Philosophie der Kunst inne.

Bild:
Emilie Vialet

Das haben viele Architekten und Stadtplaner längst erkannt. Aber die Bewegungen, die gegen solche Zustände und für ein Recht auf Stadt streiten, nutzen nach Labbés Ansicht oft ungeeignete Formen des Widerstands. Temporäre Protestcamps außerhalb der Städte könnten zwar der Vernetzung und dem Einüben ­eines neuen Zusammenlebens dienen, aber sie seien ihrem Wesen nach der Ausnahme- und nicht der Normalzustand und könnten nichts an den konkreten Gegebenheiten ändern. Auch die Massenbesetzung großer Plätze könne zwar Aufmerksamkeit schaffen, bleibe aber oft folgenlos.

All diese Aktionen finden Labbé zufolge schlicht am falschen Ort statt. Man müsse beim Wo ansetzen, meint er, bevor man die Frage nach dem Wie stellt. Labbé schlägt vor, an Ort und Stelle tätig zu werden, also immer dort, wo man lebt. Im eigenen Viertel, auf der Straße, im unmittelbaren Wohnumfeld erkennt er den primäre Handlungsraum. In der Alltagswelt, nicht im Spektakel solle Veränderung stattfinden; man erreiche dort schließlich auch sehr viel mehr Menschen, auch jene, die nicht politisiert seien. Als gelungene Beispiele führt er ein genossenschaftliches Quartier in São Paulo sowie Spielplätze auf Nachkriegsbrachen in den Niederlanden an.

So plausibel seine Argumentation auch erscheint, vernachlässigt sie doch, dass Eigentumsrechte, Verwaltungsvorschriften und das Baurecht die Spielräume für nachbarschaftliche Initiativen immer stärker einschränken. Viele der genannten Leerflächen in den Niederlanden, so muss auch Labbé zugeben, sind längst bebaut worden. Wollen Anwohner also den öffentlichen Raum umgestalten, benötigen sie Ressourcen, vor ­allem Geld, Grund und Boden. Man braucht als Kooperationspartner eine aufgeschlossene Stadtverwaltung, die eben nicht den Plänen von Investoren folgt, oder wenigstens eine, die gegen Besetzungen und Aneignungen nichts unternimmt.

Ob man dafür in die Politik gehen sollte oder wie entsprechende Lobbyarbeit aussehen könnte, davon ist leider nichts zu lesen. Außerdem krankt der lokale Ansatz daran, dass nicht alle Anwohner übereinstimmende Interessen haben und sich auch nicht alle werden beteiligen wollen oder können. Die Eigenheimbesitzer mit großem Garten werden vermutlich andere Interessen haben als die Mieter eines Hochhauses in derselben Straße.

In jedem Fall aber bedarf es kulturellen Kapitals, Anwohner benötigen Erfahrungen im Organisieren und im Umgang mit Behörden, wenn sie in den öffentlichen Raum intervenieren wollen. Bleiben noch die kollektiven Hausprojekte: Sie entziehen dem Kapitalmarkt Objekte, schlagen die Immobilienbranche quasi mit den eigenen Waffen. Allerdings braucht es auch dafür einiges an Kapital, eine allgemeine Lösung ist das deshalb nicht.

Fazit: Überzeugend legt Labbé dar, wie unter dem Deckmantel von Strukturförderung elementare Grundrechte ausgehebelt werden und insbesondere marginalisierten Gruppen die soziale Anerkennung entzogen wird. Seine Anleitung zum Widerstand gegen die »Architektur der Verachtung« läuft jedoch eher auf eine Beschwörung hinaus, endlich aktiv zu werden. Davon mag man träumen, eine erfolgversprechende Handlungsanleitung ist das aber noch nicht.


Buchcover

Mickaël Labbé: Platz nehmen. Gegen eine Architektur der Verachtung. Aus dem Französischen von Felix Kurz. Edition Nautilus, Hamburg 2023. 208 Seiten, 20 Euro