Wie Whataboutism und Strohmänner jede Diskussion sabotieren

Über Streubomben und Strohmänner

Mit dem Vorwurf des Whataboutism und dem Strohmann-Argument haben in den öffentlichen Debatten der vergangenen Jahre zwei ­Argumentationsfiguren an Beliebtheit gewonnen, die rhetorische Kniffe der Gegenseite entlarven wollen. Allerdings eignen sich beide auch wunderbar dazu, sich selbst jeder Kritik zu entziehen.

In öffentlichen Debatten über den derzeitigen Krieg zwischen Israel und der Hamas stößt man unweigerlich auf Diskussionsteilnehmer, die sich problematischer Argumentationsfiguren bedienen. Noch bevor der erste Gegenschlag Israels überhaupt stattgefunden hatte, konnte man schon hören, wie schlimm die sicherlich zu erwartenden Reaktionen ausfallen würden und wie unmenschlich die Lebensbedingungen der Palästinenser seien. »Wenn die Zunge der Palästinenser systematisch abgeschnitten wird, wie sollten sie sich mit Worten wehren?« schrieb etwa der Journalist Malcolm Ohanwe und verharmloste damit das bestialische Abschneiden von Köpfen zu einem angemessenen Akt der Selbstverteidigung der Hamas-Terroristen.

Ohanwes Strategie lässt sich als »Whataboutism« bezeichnen. Der Begriff wurde unter anderem durch ­einen Artikel im britischen Wirtschaftsmagazin The Economist aus dem Jahr 2008 bekannt. Während des Kalten Kriegs habe sich die Sowjetunion ausgiebig eines rhetorischen Tricks bedient: Immer wenn der Westen Kritik an der Repression des sowjetischen Apparats äußerte, habe die Sowjetunion diese mit der Gegenfrage nach westlichen Verbrechen gekontert. Auch unter dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sei auf diese Weise Kritik abgewehrt worden: »Putin war ein früherer KGB-Offizier? Nun, George Bush sen. hat die CIA geleitet.«

Whataboutism ist es demnach, wenn man nach den Verfehlungen des Gegners fragt, um zum eigentlichen Gesprächsgegenstand keine Stellung beziehen zu müssen. In der Systematik der Fehlschlüsse ist der Whataboutism eine Form des Tu-quoque-Arguments (»auch du«), das wiederum zu den Argumenten ad hominem gehört, den Scheinargumenten, die die Position eines Gegners durch einen Angriff auf dessen persönliche Eigenschaften anfechten.

Je bekannter eine Sorte von Scheinargumenten wird, desto leichter kann der Vorwurf, sich ihrer zu bedienen, seinerseits als rhetorische Waffe eingesetzt werden.

Rhetorische Stilmittel und die ihnen zugrunde liegenden logischen Schlüsse und Fehlschlüsse werden spätestens seit Aristoteles (384–322 v. Chr.) philosophisch untersucht. Eine praktische Anleitung und Systematisierung unternahm beispielsweise der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer mit seiner ab 1830 geschriebenen, aber zu Lebzeiten unveröffentlichten »Eristischen Dialektik«, die gern auch beschrieben wird als »die Kunst, Recht zu behalten«. Schopenhauer empfiehlt darin, die dialektischen Kunstgriffe zu studieren, um gegen sie gewappnet zu sein. Aber auch, um sie selbst anzuwenden, denn man könne sich nicht darauf verlassen, dass der Gegner in einer Debatte das bessere Argument kampflos akzeptiere.

»Woher kommt das?« fragt er in der Einleitung. »Von der natürlichen Schlechtigkeit des menschlichen Geschlechts. Wäre diese nicht, wären wir von Grund aus ehrlich, so würden wir bei jeder Debatte bloß darauf ausgehn, die Wahrheit zu Tage zu fördern, ganz unbekümmert ob solche unsrer zuerst aufgestellten Meinung oder der des Andern gemäß ausfiele: dies würde gleichgültig, oder wenigstens ganz und gar Nebensache sein. Aber jetzt ist es Hauptsache.« Man könnte meinen, er hätte Twitter gekannt.

Schopenhauer empfiehlt durchaus, die Kniffe auch selbst zu benutzen, wenn man sich argumentativ in die Enge getrieben sieht. Es könnte nämlich sein, dass man die Wahrheit doch auf seiner Seite hat und nur nicht gleich das richtige Gegenargument findet. Um nicht vorschnell aufzugeben und so der Wahrheit einen Bärendienst zu erweisen, solle man sicherheitshalber zunächst versuchen, den eigenen Standpunkt zu verteidigen – und zwar, da man sich nicht auf die Redlichkeit des Gegners verlassen könne, auch mit unredlichen Mitteln.

In letzter Zeit wird der Begriff What­aboutism breiter verwendet als ursprünglich vorgesehen. Er bezeichnet nicht mehr nur eine Variante des tu quoque, sondern jede Form von Ablenkung oder Relativierung. Er fragt nicht mehr nur: »Und was ist mit deinen Verfehlungen?«, sondern auch: »Und was ist mit X, ist X nicht wichtiger?« Nach dieser Lesart ist die Stammtischparole »Haben wir denn keine anderen Probleme?« die allgemeinste Form des Whataboutism, die, wenn man so will, einer argumentativen Streubombe gleichkommt.

Je bekannter eine Sorte von Scheinargumenten wird, desto leichter kann der Vorwurf, sich ihrer zu bedienen, seinerseits als rhetorische Waffe eingesetzt werden. So billig es nämlich ist, ein Problem durch Benennung eines vermeintlich wichtigeren Problems beiseite zu wischen, so einfach ist es auch, mittels Brandmarkung als »Whataboutism« überhaupt jede Einordnung zu diskreditieren.

Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, einen Sachverhalt mit einem anderen zu vergleichen. Wenn man beispielsweise fragt, ob jene, die Klimaaktivisten als »Terroristen« bezeichnen, weil diese mit ihren Straßenblockaden auch Rettungsfahrzeuge behinderten, sich auch bei protestierenden Bauern mit ihren Traktorkorsos derartige Sorgen machten, wird gerne mit dem Vorwurf des Whataboutism reagiert: Man lenke unzulässig von den Verbrechen der Aktivisten ab, es gehe jetzt um diese und nicht um die Bauern.

Anders als der Whataboutism ist der Strohmann nicht nur eine rhetorische, sondern auch eine juristische Figur. Als solchen bezeichnet man eine Person, die in einem Rechtsgeschäft anstelle von jemand anderem agiert, der nicht in Erscheinung treten darf oder will. Es kursieren verschiedene Erklärungen für den Ursprung des Begriffs. Einmal heißt es, er komme von einem römischen Ritual, Strohpuppen in den Tiber zu werfen, die als Ersatz für Menschenopfer herhalten mussten. Aber auch die Strohpuppen, die beim Fechten als Dummys dienten, könnten der Bezeichnung zugrunde liegen.

Bei einem Strohmann-Argument wird eine Auseinandersetzung mit einer gegnerischen Position nur fingiert: Man tut so, als widerlege man das Argument des Gegners, jedoch argumentiert man lediglich gegen eine dem Gegner bewusst in den Mund gelegte überspitzte oder verkürzte Version von dessen Argument. Es wirkt dann, als wäre mit der Widerlegung des Strohmann-Arguments das Argument des Gegners selbst entkräftet.

Das Strohmann-Argument wird ­zu den »Ablenkungsfehlschlüssen« gezählt, funktioniert also dadurch, über etwas anderes zu sprechen als das, was für die in Frage stehende These tatsächlich relevant ist. Beispielsweise erschienen in jüngster Zeit mehrere Artikel darüber, wieso der Klimawandel »doch nicht« zu einer völligen apokalyptischen Auslöschung der Menschheit führen würde. Gegner der Klimaaktivisten versichern einander darin, dass es so schlimm ja nicht kommen werde, diskreditieren die Aktivisten als Anhänger einer »Weltuntergangssekte« und übergehen dabei, dass kein Mensch ernsthaft glaubt, der Klimawandel werde tatsächlich jedes menschliche Leben auf Erden vernichten. Die Katastrophen, die zahllose Leben vernichten und die Überlebenden immens schädigen werden, reichen völlig aus.

Kombiniert man Strohmann und Whataboutism, kann man sich gegen eine Vielzahl von Angriffen immunisieren.

Auch das Strohmann-Argument wird immer öfter benutzt. Es dient dazu, einer These des Gegners die Relevanz abzusprechen. Dem Gegner wird unterstellt, es gehe ihm um etwas anderes, als er behauptet; das, was er kritisiert, sei nur ein vorgeschobenes Scheinargument. Ein Beispiel ist im Rahmen der gesetzlichen Neuregelungen zur geschlechtlichen Selbstbestimmung die Sorge, dass biologisch männliche Personen in Frauengefängnissen unterkommen und dort sexuelle Gewalt ausüben könnten, wenn entsprech­en­de Regellücken bestünden. Das ist ­eine nachvollziehbare Sorge, und da auch sie für niedere Zwecke missbraucht werden kann, ist es unredlich zu behaupten, dass diese Sorge nur ein »Strohmann« sei. Dieser Vorwurf enthält die Unterstellung, in Wahrheit generell gegen Selbstbestimmung zu sein, und entbindet einen davon, auf das Argument überhaupt zu antworten.

Das Wissen über Fehlschlüsse und rhetorische Kniffe sickert in die Allgemeinbildung ein, Bestseller wie »Schnelles Denken, langsames Denken« (»Thinking, Fast and Slow«, 2011) des israelisch-US-amerikanischen Psychologen Daniel Kahneman haben dazu beigetragen. Schopenhauer würde sich vielleicht darüber freuen. Er schreibt in der »Eristischen Dialektik«: »Die wissenschaftliche Dialektik in unserm Sinne hat demnach zur Hauptaufgabe, jene Kunstgriffe der Unredlichkeit im Disputieren aufzustellen und zu analysieren: damit man bei wirklichen Debatten sie gleich erkenne und vernichte.«

Das ist ihm gelungen. Allerdings hat er nicht vorhergesehen, dass diese Kenntnis die Debattenkultur nicht nur verbessert, sondern sogleich ihrerseits als argumentative Waffe unredlich eingesetzt werden kann – ganz im Einklang mit seiner These »von der natürlichen Schlechtigkeit des menschlichen Geschlechts«.

Kombiniert man Strohmann und Whataboutism, kann man sich gegen eine Vielzahl von Angriffen immunisieren. Die Bedeutung eines Anliegens lässt sich nicht mehr in Relation setzen, denn jeder Vergleich mit anderen Problemen wäre ja What­aboutism. Und man kann jede Kritik abwehren, indem man behauptet, sie richte sich lediglich gegen einen Strohmann. Indem der Gegner überhaupt ein Gegenargument bringt, beweist er, dass er die Sache prinzipiell nicht würdigt. Das Ergebnis ist, dass dem Gegenüber nur noch die Wahl gelassen wird, eine Meinung entweder vollständig zu übernehmen oder vollständig abzulehnen, womit sich selbstredend jeder Dialog erübrigt.