Das Buch »Hyperpolitik« von Anton Jäger untersucht die oberflächliche Politisierung durch soziale Medien

Ein schillernder Begriff

Der Historiker Anton Jäger versucht in seinem neuen Buch, die »Hyperpolitik« zu verstehen, nämlich die starke Politisierung junger Menschen durch soziale Medien, die aber nicht zu gesellschaftlichen Veränderungen führt. Jägers Analyse ist einleuchtend, seine Gegenvorschläge klingen allerdings wohlfeil.

Politische Bewegungen wie Occupy Wall Street, Fridays for Future oder auch Black Lives Matter versammelten in den letzten zehn bis 15 Jahren weltweit Hunderttausende von Menschen auf den Straßen. Hier und da lag der Geruch der Revolte in der Luft. Gravierende Probleme wie Klimawandel, Rassismus, Polizeigewalt oder die durch das Diktat der Schuldenökonomie sich zuspitzende soziale Ungleichheit sollten endlich an der Wurzel gepackt werden.

Doch so schnell wie die Protestbewegungen entstanden, so schnell verpufften sie auch wieder. Warum kann die politische Linke, anders als es in der Vergangenheit beispiels­weise den Gewerkschaften gelang, trotz enormer Mobilisierungen ihre Ziele nicht mehr erreichen, während die politische Rechte einen Wahlerfolg nach dem anderen einfährt? Das ist, vereinfacht gesagt, die Ausgangsfrage, die sich der belgische Historiker Anton Jäger in seinem kürzlich erschienenen Essay »Hyperpolitik« stellt.

Jäger darf als einer der intellektuellen Köpfe des sogenannten millennial socialism gelten, dessen Advokaten seit einiger Zeit versuchen, mit ihrem wohlklingenden Programm eines demokratischen Sozialismus die Lähmung der globalen Linken zu überwinden. Als ihr inoffizielles Zentralorgan fungiert das Magazin Jacobin, das in den USA, Italien, Brasilien und seit einigen Jahren auch in Deutschland erscheint. Die deutsche Ausgabe verlor übrigens zunächst kein Wort über das Massaker in Israel, um dann einen Artikel von Jeremy Corbyn, dem ehemaligen Vorsitzenden der britischen Labour-Partei, zu veröffentlichen, der einst die Hamas als seine »Freunde« bezeichnete.

Die Vorstellung von Jägers Buch war eines der Highlights der von Jacobin organisierten Konferenz »Socialism in Our Time«, die Anfang Oktober in Berlin stattfand. Zudem wurde der hauseigene Jacobin-Podcast, moderiert von der ehemaligen Chefredakteurin Ines Schwerdtner, nach Jägers schillernder Wortschöpfung »Hyperpolitik« benannt.

Jäger geht in seiner kulturtheoretischen Argumentation sehr selektiv vor, ohne die von ihm untersuchten Phänomene in Gänze zu betrachten.

Das schmale Büchlein von etwas mehr als 100 Seiten versucht sich also an einer Erklärung des jämmerlichen Zustands der Linken. Dabei erzählt Jäger die Entwicklung der vergangenen 100 Jahre nach, an deren Ende die »Hyperpolitik« stehe: »Dieser Begriff soll es ermöglichen, eine Form der Politik zu verstehen, die auf die Massenpolitik des späten 19. und des kurzen 20. Jahrhunderts, die Postpolitik der ›sehr langen‹ Neunziger und die Antipolitik der zehner Jahre gefolgt ist.« Hyperpolitik und Antipolitik beschreiben demnach eine Phase rasanter Repolitisierung bei gleichzeitiger Deinstitutionalisierung. Ihnen gegenüber stehe die Massenpolitik des 20. Jahrhunderts, die einen hohen Grad an politischer Kollektivität und Institutionalisierung aufwies und deren Niedergang mit der Erosion des historischen Kompromisses zwischen Arbeit und Kapital ab den siebziger Jahren einsetzte.

In der Phase der Antipolitik, die sich gegen die Schuldenkrise und die damit einhergehende technokratische Durchsetzung der neoliberalen Austeritätspolitik der vergangenen 15 Jahre auflehnte, entwickelten sich, so Jäger, noch einige wenige Formen der Institutionalisierung. Zu nennen seien linkspopulistische Parteien wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien. Deren Erfolg wäre ohne die vorausgegangenen Massenproteste nicht möglich gewesen. Die Hyperpolitik wiederum stelle eine »Intensivierung der An­tipolitik dar, einen Modus der viralen Panik, wie sie typisch ist für das beschleunigte Internetzeitalter mit seinen kurzen Hype- und Empörungs­zyklen.«

Proteste erreichen nun in kürzester Zeit Dimensionen, die ganze Gesellschaften in Beschlag nehmen, aber genauso schnell, wie sie entstanden, verschwinden sie wieder – ohne nennenswerte Auswirkungen auf den Status quo. So ist in den USA die Polizeigewalt nach den Protesten von Black Lives Matter keineswegs zurückgegangen. Im Gegenteil: »Laut dem Projekt Mapping Police Violence wurden 2022 in den USA 1 200 Menschen, darunter weiterhin überproportional viele Schwarze, von Beamten getötet – der höchste Wert, seit die Organisation 2013 begann, entsprechende Daten zu sammeln.«

Jägers Herangehensweise ist dabei keineswegs die einer politik- oder sozialwissenschaftlichen Untersuchung, auch wenn er sich hier und da entsprechende Unterstützung sucht. Dem Vorwurf mangelnder Empirie versucht er sich gleich zu Beginn zu entziehen, denn seine Ausführungen sollen »eher auf eine Tendenz hin als auf einen totalisierenden Stil« hinweisen. Die Belege für seine Argumentation bezieht er vielmehr aus Kunst und Kultur. So beginnt sein Buch mit einer Aufnahme des bekannten deutschen Fotografen Wolfgang Tillmans von 1989, die eine meditativ tanzende Frau in einem Club zeigt. In ihr sieht Jäger emblematisch den Versuch, »die ideologischen Gespenster des Jahrhunderts auszutreiben«, und zwar durch den Übergang zu privatisierter Postpolitik.

Illustre französische Theoretiker wie Jean Baudrillard und Guy Debord dürfen ebenfalls nicht fehlen. Oder auch Didier Eribon und Annie Ernaux, die Popstars unter den Milieu­erklärern und des autofiktionalen Schreibens. Immer wieder ist es zudem das Werk Michel Houellebecqs, mit dem Jäger die Individualisierung und Entpolitisierung der westlichen Gesellschaften ab den Neun­zigern belegt – ohne dabei auf zentrale Themen in Houellebecqs Werk einzugehen. Denn während Houellebecq in seinem Romandebüt »Ausweitung der Kampfzone« (1999) sexuelle Frustration und depravierte Männlichkeit als Ausdruck einer neoliberalen Zurichtung darstellt, sieht Jäger nur einen diffusen Nihilismus einer vereinsamten Generation, »die weder Politik noch Geschichte kennt und bloß die schnellstmögliche Befriedigung sucht«.

Insofern geht Jäger in seiner kulturtheoretischen Argumentation sehr selektiv vor, ohne die von ihm untersuchten Phänomene in Gänze zu betrachten. Den Erfolg der politischen Rechten erklärt er damit, dass es ihr oft genüge, »die Eigentumsverhältnisse zu verteidigen oder zu stabilisieren. Nicht Militanz, sondern Apathie und Resignation sind ihre großen Trümpfe.« Qanon, Trump-Unterstützer oder Black Lives Matter versteht er trotz der ekla­tanten ideologischen Unterschiede als hyperpolitische Gruppen, »die auf kurze und starke Reize reagieren, angetrieben von charismatischen Influencern und digitalen Demagogen«.

Weiter schreibt er: »Jeder kann einer Facebook-Gruppe mit QAnon-Sympathien beitreten; die Kosten für den Austritt sind ebenfalls niedrig. Die Anführer können versuchen, diese Schwärme vorübergehend zu choreografieren – mit Tweets, Fernsehauftritten oder angeblichen rus­sischen Bots. Doch eine solche Choreografie ist nicht gleichbedeutend mit dauerhafter Organisation.« Dass Antisemitismus und Rassismus zum Fundament rechter Ideologie gehören und für ihren Erfolg wesentlich sind, spart er dabei konsequent aus.

Trotz dieser blinden Flecken ist Jägers Diagnose einleuchtend: Wir leben in einer Zeit intensiver politischer Erhitzung, die einhergeht mit einem Tiefstand institutioneller Organisierung. Die politisierte Masse geht aus höchst instabilen Verkettungen hervor, die sich in den digitalen Informationsströmen innerhalb kürzester Zeit bilden, vereinzelt auch den Weg auf die Straße finden, ehe sie wieder wirkungslos in ihre Einzelteile zerfallen.

Kampagnen wie »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« zeigten laut Jäger, »dass es in solchen alltäglichen Zusammenhängen Ansatzpunkte gibt, an die kontinuierliches Engagement sich nach und nach ankristallisieren kann«.

Die Vielzahl übereifriger Social-Media-Aktivisten mag ihre revolutionäre Entschlossenheit noch so emphatisch zur Schau stellen – am Ende läuft es nur darauf hinaus, einander die eigene politische Integrität zu versichern. An den bestehenden Problemen und Machtverhältnissen ändert sich nichts. Denn wer sich, wie Jäger feststellt, in den sozialen Medien versammelt, »bespielt expressive soziale Repertoires, die keinerlei langfristige Verpflichtungen erfordern. Atomisierung und Beschleunigung gehen Hand in Hand: Die Menschen sind im neuen Jahrhundert einsamer, aber auch aufgeregter; atomisierter, aber auch vernetzter; wütender, aber auch verwirrter.«

Da könnte man sich freilich die gute alte Zeit der großen Massenparteien, Gewerkschaften und ihrer Verbände und Vereine zurückwünschen. Jäger blickt jedoch keineswegs nostalgisch darauf zurück; die Kehrseite – Diszi­plinierung, Hierarchie und Gehorsam – ist ihm durchaus bewusst. Wie sich die vereinsamten Individuen heutzutage wieder sozial und politisch verankern ließen, um strukturelle Veränderungen zum Besseren zu bewirken, weiß er wohl selbst nicht recht. Seine wenigen Vorschläge klingen sehr wohlfeil.

Das Potential gegenseitiger sozialer Verpflichtungen sieht Jäger dort, wo Menschen nach wie vor zusammenkommen und Interessen teilen. Das sei in den Bereichen der Care-Tätigkeit der Fall, zum Beispiel in Kinderkrippen, bei Elternabenden oder in Pflegeheimen. Auch die Wirksamkeit von Betriebsräten hat er noch nicht abgeschrieben. Kampagnen wie »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« zeigten, »dass es in solchen alltäglichen Zusammenhängen Ansatzpunkte gibt, an die kontinuierliches Engagement sich nach und nach ankristallisieren kann«.

Wenn sich jedoch über zwei Jahre nach einem erfolgreichen, aber nicht verwirklichten Volksentscheid die desaströse Situation am Berliner Wohnungsmarkt weiterhin verschärft, kommt einem im Hinblick auf die politische Linke nur noch Samuel Becketts Bonmot in den Sinn: »Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.«


Buchcover_Hyperpolitik

Anton Jäger: Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen. Aus dem Englischen von Daniela Janser, Thomas Zimmermann und Heinrich Geiselberger. Suhrkamp, Berlin 2023, 136 Seiten, 16 Euro