Zur Neuauflage von Perry Andersons »Über den westlichen Marxismus«

Von allen guten Massen verlassen

In seinem 1976 erschienenen Buch »Considerations on Western Marxism« warf der britische Historiker Perry Anderson unter anderem den Vertretern der Frankfurter Schule vor, den Klassenkampf vernachlässigt zu haben. Der westliche Marxismus sei durch die Trennung von der politischen Praxis geprägt. Die deutsche Fassung seines einflussreichen Buchs ist jetzt in einer Neuauflage erschienen.

»Wir haben nicht die Praxis verlassen, sondern die Praxis hat uns verlassen«, erklärte der Literatursoziologe Leo Löwenthal 1980 in einem Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Helmut Dubiel. Löwenthal gehört zur ersten Generation der Kritischen Theorie, einer Denkrichtung, die häufig dem »westlichen Marxismus« zugeordnet wird. Dieses Label popularisierte Perry Anderson in den siebziger Jahren durch seinen programmatischen Essay »Über den westlichen Marxismus« (»Considerations on Western Marxism«, 1976). Der britische Historiker und Protagonist der Neuen Linken der sechziger und siebziger Jahre warf dem »westlichen Marxismus« vor, die Trennung von Theorie und (revolutionärer) Praxis innerhalb der sozialistischen Bewegung besiegelt zu haben. Im ­Interview mit Dubiel wies Löwenthal diesen Vorwurf mit seinem Bonmot zurück.

Viele Jahre war die deutsche Übersetzung des Buchs von Anderson vergriffen, nun hat der Berliner Dietz-Verlag den Text neu herausgegeben. Stephan Lessenich, der Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, schreibt im Nachwort zur Neuauflage: »Die Entfernung, ja Distanzierung von proletarischen Massen und ihren politisch-sozialen Kämpfen gilt Anderson als Geburtsfehler und Kardinaluntugend der von ihm konstruierten Theoriegemeinschaft.«

Bereits dieses Konstrukt einer Theoriegemeinschaft ist problematisch. Anderson fasst Theoretiker zusammen, die teils antagonistischen Denktraditionen entstammen. Neben den Vertretern der Kritischen Theorie zählt er nicht nur Theoretiker wie Georg Lukács, Karl Korsch oder Roman Rosdolsky zum »westlichen Marxismus«, die sich, verkürzt gesagt, dem sogenannten Hegelmarximus zuordnen lassen, sondern auch Vertreter des strukturalistischen Marxismus wie Louis Althusser, Antonio Gramsci oder Nicos Poulantzas. Anders als in der Kritischen Theorie, anders als bei Lukács oder Korsch oder auch in der Neuen Marx-Lektüre wird Gesellschaft im strukturalistischen Marxismus von Althusser oder Poulantzas nicht mehr als Totalität begriffen. Ideologie ist dort nicht mehr notwendig falsches Bewusstsein, sondern Ausdruck politischer und ökonomischer Machtverhältnisse.

Die Bezeichnung »westlicher Marxismus« geht auf den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty zurück, der ihm in seiner 1955 erschienenen Schrift »Die Abenteuer der Dialektik« ein komplettes Kapitel widmet.

Auf die Unterschiede geht Anderson kaum ein, da es ihm weniger um eine theoretische Analyse geht als vielmehr um das Verhältnis zur realen Politik. Gemeinsam war den genannten Theoretikern die Opposition zur Sozialdemokratie und vor allem zum Stalinismus. Anderson wirft ihnen allen folglich eine negative ­Fixierung auf den Stalinismus vor; er macht sie zudem für das Scheitern der Arbeiterbewegung spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zumindest mitverantwortlich: »Der westliche Marxismus von Lukács und Korsch zu Gramsci und Althusser nahm in vieler Hinsicht die ganze Bühne der Intellektuellen der europäischen Linken nach dem Sieg Stalins in der UdSSR ein. (…) Nie hat er (der westliche Marxismus, Anm. d. Red.) den Stalinismus vollständig akzeptiert, er hat ihn jedoch auch nie aktiv bekämpft. (…) Für sie alle gab es außerhalb des Stalinismus kein anderes wirkliches Feld sozialistischer Aktion.« Es ist ein Vorwurf, der so nicht haltbar ist, wie ein Blick die historische Entwicklung der fraglichen Denktraditionen zeigt.

Die Bezeichnung »westlicher Marxismus« geht auf den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty zurück, der ihm in seiner 1955 erschienenen Schrift »Die Abenteuer der Dialektik« ein komplettes Kapitel widmet. Darin befasst er sich vornehmlich mit der Kontroverse zwischen »westlichem Marxismus« und Leninismus. Dieser finde sich bereits bei Marx »als Konflikt von dialektischem Denken und Naturalismus« beschrieben. Man könnte auch sagen: Der »westliche Marxismus« wendet sich radikal gegen den blinden Fortschrittsglauben der II. und III. Internationalen, wonach eine Art Naturgesetz den Übergang zum Sozialismus unvermeidlich mache.

Herbert Marcuse hat dies in seinem Werk »Vernunft und Revolution« aus dem Jahr 1941 auf den Punkt gebracht: »Wir erinnern uns der Marxschen Ansicht, dass die Naturgesetze der Gesellschaft die blinden und irrationalen Prozesse der kapitalistischen Produktion zum Ausdruck brächten, und dass die sozialistische Revolution eine Emanzipation von diesen Gesetzen mit sich bringen sollte. Im Gegensatz dazu verfochten die Revisionisten, dass die gesellschaftlichen Gesetze ›Naturgesetze‹ sind, die die unvermeidliche Entwicklung zum Sozialismus garantieren.«

Auch wenn Anderson kein Stalinist ist, orientiert er sich an einem Politikbegriff, der sich kaum von dem des orthodoxen Marxismus-Leninismus unterscheidet.

Andersons Essay greift die Kontroverse auf, indem er seinerseits versucht, den Leninismus für die politische Praxis zu rekonstruieren, und Lenin zitiert: »Sein berühmtes Diktum ›ohne revolutionäre Theorie keine ­revolutionäre Bewegung‹ wird oft zu Recht angeführt. Aber mit gleichem Nachdruck schrieb er auch, dass ›die richtige revolutionäre Theorie (…) nur in engem Zusammenhang mit der Praxis einer wirklichen Massenbewegung und einer wirklich revolutionären Bewegung endgültig Gestalt annimmt‹.«

Auch wenn Anderson kein Stalinist ist, orientiert er sich an einem Politikbegriff, der sich kaum von dem des orthodoxen Marxismus-Leninismus unterscheidet. An dieser Stelle hilft es, auf die Epoche zu schauen, in der Andersons Buch entstand. »Mitte der siebziger Jahre schien die Welt noch in Ordnung«, schreibt Lessenich und verweist auf eine Stelle am Ende von Andersons Aufsatz: »Wenn die Massen selbst sprechen, werden die Theoretiker, wie sie der Westen seit 50 Jahren hervorgebracht hat, notgedrungen schweigen.«

Andersons Optimismus wirkte schon damals reichlich anachronistisch: Die Protestbewegung war bereits zerfallen und ihre Nachfolger hatten allenfalls in Italien oder Frankreich kurze Bündnisse mit der organisierten Arbeiterschaft erreicht. Die Neue Linke zerfaserte in Fraktionen, die sich untereinander bitterböse bekämpften: Die oft studentisch geprägten maoistischen K-Gruppen warfen den an Moskau orientierten kommunistischen Parteien Revisionismus und Reformismus vor – Letzteres vor allem dort, wo sie Regierungsbündnisse mit Sozialisten (Frankreich) eingingen oder gar mit Christdemokraten zumindest eingehen wollten (Italien). Andere gingen in den Untergrund, propagierten den Marsch durch die Institutionen, suchten nach Alternativen oder stiegen komplett aus.

Der Politologe Johannes Agnoli hat das Dilemma so beschrieben: »Das Politische ist wirklich autonom nur als Revolution, als Praxis, die die Logik der kapitalistischen Entwicklung durchkreuzt und alle Subsumption unter die Verwertung aufhebt.« Kulturell mag die Neue Linke einiges bewirkt haben, machtpolitisch und ökonomisch war spätestens Ende der siebziger Jahre offensichtlich, dass nicht etwa der Sozialismus den Fordismus ablösen würde, sondern ein radikaler Neoliberalismus. Thatcherismus, Reaganomics und Helmut Kohls »geistig-moralische Wende« ließen Arbeiterbewegung und Bewegungslinke rat- und hilflos zurück, weil ihnen nicht nur die Theorie abhandengekommen war; sie begaben sich in hoffnungslose letzte Gefechte, die in Großbritannien den Untergang der organisierten Arbeiterklasse zur Folge hatten. Eine Entwicklung, die Anderson nicht vorhergesehen hat oder nicht vorhersehen wollte.

Anderson attestiert den Protagonisten einen latenten Pessimismus. Der Marxismus habe demnach »zwischen 1920 und 1960 seine Farbe« verändert. »Zusehends schwanden die Zuversicht und der Optimismus der Begründer des historischen Materialismus und ihrer Nachfolger dahin.« Den Nationalsozialismus und die Verfolgung vieler Marxisten und Sozialisten, die nicht selten auch Juden waren, blendet Anderson weitestgehend aus. Dabei war dieser tiefgreifende Einschnitt, der in der Regel das komplette Leben der Betroffenen radikal veränderte, ein wesentlicher Grund dafür, auch die eigenen theoretischen Überlegungen zu hinterfragen und das Versagen der Arbeiterklasse zu analysieren.

»Marxismus hieß für uns die Theorie der Gesellschaft, aber die richtige Politik zu der Verwirklichung dessen, was Marx die richtige Gesellschaft nannte, das war bestimmt nicht die Angelegenheit der damaligen Kommunistischen Partei.« Max Horkheimer

Der Abschied vom Proletariat als revolutionärem Subjekt war für diese Theoretiker allerdings keinesfalls der Abschied vom revolutionären Denken. Die sozialistische Gesellschaft werde »nicht von einer der Geschichte immanenten Logik, sondern von den an der Theorie geschulten, zum Besseren entschlossenen Menschen (…) verwirklicht, oder überhaupt nicht«, schreibt Max Horkheimer bereits 1926 (unter dem Pseudonym Heinrich Regius) in seiner Aphorismensammlung »Dämmerung«. 1969 erzählte er dem Schweizer Journalisten Otmar Hersche: »Marxismus hieß für uns die Theorie der Gesellschaft, aber die richtige Politik zu der Verwirklichung dessen, was Marx die richtige Gesellschaft nannte, das war bestimmt nicht die Angelegenheit der damaligen Kommunistischen Partei.«

Anderson blieb dagegen sehr stark auf den Parteikommunismus fixiert und wandte sich später vor allem dem Trotzkismus zu. »So steht die Tradition, die sich von Trotzki herleitet, in einem deutlichen Gegensatz zu der des westlichen Marxismus. In ihrem Zentrum standen ­Politik und Ökonomie, nicht die Philosophie«, schreibt er.

Das allerdings würden die »westlichen Marxisten« zurückweisen. Mitunter genügt schon ein Blick auf die Titel der Schriften, um das Anliegen zu erkennen: »Philosophie der Praxis« (Gramsci), »Vernunft und Revolution« (Marcuse) oder »Marxismus und Philosophie« (Korsch). Auch Theodor W. Adorno beginnt sein 1966 erschienenes Opus magnum, die »Negative Dialektik«, mit dem Satz: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.« Umwälzungen werden vor allem als Möglichkeit gedacht und nicht als voluntaristischer Akt.

Anderson hat dies nicht erkannt. Sein Buch taugt daher weniger als Analyse, sondern vielmehr als Dokumentation einer vor allem theoretischen Auseinandersetzung mit dem Scheitern der Arbeiterbewegung und dem Versuch, daraus eine revolutionäre Theorie zu entwickeln, die die Emanzipation nicht verrät. Wer sich damit weiter beschäftigen möchte, sollte unbedingt die Originale lesen.

Perry Anderson: Über den westlichen Marxismus. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Dietz-Verlag, Berlin 2023, 152 Seiten, 18 Euro