Punks demonstrieren auf Sylt gegen Wohnungsnot

Reisegruppe Sylt

Die Punks sind zurück auf der Luxusinsel und campen gegen soziale Ungerechtigkeit und Wohnungsnot.

In Hamburg verstarben im vergangenen Winter mindestens 20 Obdachlose aufgrund ihrer Lebensumstände auf der Straße. In Berlin laufen beim Landeskriminalamt derzeit Dutzende von Identitätsermittlungsverfahren zu Leichen, welche man in den vergangenen Jahren an öffentlichen Orten auffand; die Ermittler:innen vermuten, dass es sich bei ihnen fast ausnahmslos um Obdachlose handelte. Schätzungen des Mieterbunds zufolge sind zur Zeit etwa eine Million Menschen in Deutschland obdach- oder wohnungslos. Daraus resultiere ein profitabler »Wildwuchs« in der Sozialindustrie, kritisiert die ehemalige Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linkspartei); also ein uneinheitliches Netz teils privater Unternehmen, die aus der Misere Kapital schlagen. Breitenbach kritisierte, dass Unterbringungen teils ohne vertragliche Grundlage und ohne Qualitätsstandards abliefen.

»Ein Haus sollte ein Heim sein, keine Geldanlage«, heißt es im Aufruf der »Aktion Sylt«. Vom 24. Juli bis zum 20. August luden linke Aktivist:innen zum Protestcamp auf die Insel ein – wie bereits im vergangenen Jahr. Damals schwadronierte die Bild-Zeitung in sensationsheischender Erwartung von Krawallen, »Kulturkampf« und »Chaostagen«; als ob die achtziger Jahre noch andauerten. Krawalle blieben denn auch aus. In diesem Jahr wollte die Inselverwaltung einem Camp offenbar dennoch vorbeugen und sperrte den Rathauspark in Westerland komplett ab. Statt des Camps gab es die Licht­installation »Meeresrauschen«. Offiziell hatte die Lichtinstallation allerdings nichts mit dem geplanten Camp zu tun.

Die Aktivist:innen mussten auf eine Wiese in Tinnum ausweichen – unter strengen und teils absurden behördlichen Auflagen, die unter anderem ein Toiletten- und Müllkonzept umfassten. Der Müll durfte beispielsweise nicht selbst entsorgt werden, sondern musste containerweise abgeholt, berichtete einer der Akti­vist:in­nen der Taz. Der Container allerdings kostete bereits mehrere Hundert Euro – im Grundpreis, zuzüglich einer nach Gewicht berechneten Abfallgebühr.

»Es gab Initiativen, die versuchten, unser Camp zu verhindern.« Victor »Nimbus« Lange, Mitorganisator der »Aktion Sylt«

In den vergangenen Jahrzehnten hatte sich die Insel bereits unabhängig von Punk-Camps von einem ruhigen Refugium für reiche Rentner:innen immer mehr zu einer Partyinsel für Hamburger Kids entwickelt. Die Geister, die man rief, wird man nicht mehr los: Bis in die achtziger Jahre war Sylt ein Geheimtipp, dann fielen Dieter Bohlen und der Blankenese-Jetset ein. Es folgten die »Punk-Invasion« mit dem Neun-Euro-Ticket im vergangenen Jahr, ­Pinneberger Junggesellinnen-Abschiede und Komasauf-Kids aus Hamburg-Mitte.

In den vergangenen Jahren scheint die weite, wilde Welt des Festlands vieles in den gemächlichen Sylter Dünen durcheinandergebracht zu haben. Welche Erfahrungen machten die inselfremden Aktivist:innen in diesem Jahr mit den Nativen der Insel und den Tourist:innen? »Seit wir auf Sylt waren, haben wir verschiedene Erfahrungen mit den Anwohner:innen, Ur­laub­er:in­nen und der lokalen Verwaltung gemacht«, sagte Victor »Nimbus« Lange, Mitorganisator der »Aktion Sylt«, der Jungle World. Die Ablehnung des Camps habe sich teilweise ganz offen gezeigt: »Es gab Initiativen, die versuchten, unser Camp zu verhindern.« Es habe ver­einzelt sogar körperliche Angriffe auf Camp-Teilnehmer:innen gegeben.

Allerdings habe er auch positive Erfahrungen gemacht, so Lange weiter. »Viele Anwohnende und Besuchende kamen vorbei.« Sie hätten Spenden gebracht und die Teilnehmer:innen des Camps sogar zu sich eingeladen, um zu duschen oder sich auszuruhen. »Diese Unterstützung und Solidarität von Menschen vor Ort sind sehr wichtig für uns und zeigen, dass es auch auf Sylt Menschen gibt, die unsere Anliegen verstehen und unterstützen.«

Der Weg zum Camp

»Wenn Ihr links einen Aldi seht, habt Ihr es fast geschafft!« Der Weg zum Camp

Bild:
Aktion Sylt

Aber warum protestieren in Deutsch­land so wenige Menschen gegen so­ziale Ungerechtigkeit, Armut oder antidemokratische Entwicklungen, während in Israel oder Frankreich Hunderttausende auf die Straße gehen? »Einige Menschen scheuen Veränderungen, fürchten Jobverlust oder Stigmatisierung. Deutsche Mentalität, dominierende Arbeitskultur, Gehorsam und Konformität können politisches Engagement behindern.«

Was könnte Menschen stattdessen motivieren, für ihre Interessen auf die Straße zu gehen? Vielleicht ja, dass sich nicht jede:r die 50-Gramm-Portion Belugakaviar zu 250 Euro und das »kulinarische Allround-Programm mit internationalen Speisen« in der berühmten »Sansi-Bar« (»Unser Exclusive-Partner: Porsche«) am Rantumer ­Sonnenstrand leisten kann?

geändert am 22.8.2023