Das Scheitern eines Einigungsplans spielt dem libyschen Ministerpräsidenten ­Abdul Hamid Dbeiba in die Hände

Neue Wege ins Desaster

Das erneute Scheitern eines Einigungsplans spielt dem libyschen Übergangsministerpräsidenten Abdul Hamid Dbeiba in die Hände, der seine Macht ausbauen kann.

Der Hohe Staatsrat von Libyen in Tripolis, die am ehesten mit einem Oberhaus vergleichbare Parlamentskammer des Landes mit eher beratender Funk­tion, hat seit dem vorvergangenen Sonntag einen neuen Vorsitzenden: Mohamed Takala gewann am 6. August die Stichwahl gegen den bisherigen langjährigen Vorsitzenden Khaled al-Mishri mit knappem Vorsprung von 67 zu 62 Stimmen. Unmittelbar im Anschluss gratulierte der Ministerpräsident Abdul Hamid Dbeiba, der der international anerkannten Übergangsregierung in Tripolis vorsteht, Takala zu seiner Wahl; die meisten libyschen und internationalen Reaktionen waren verhalten. Dbeiba hatte al-Mishris Abwahl aktiv unterstützt.

Die größte unmittelbare Auswirkung hat die Abwahl al-Mishris auf den UN-Friedensplan und die darin geplante Abhaltung von Wahlen in ganz Libyen: Al-Mishri hatte sich als Vertreter des Hohen Staatsrats zuletzt mit Aguila Saleh, dem Sprecher des Abgeordnetenrates im ostlibyschen Tobruk, einem mit dem Hohen Staatsrat konkurrierenden Parlament, auf einen wackeligen Kompromiss geeinigt. Dieser sieht zwar die vom UN-Sondergesandten Abdou­laye Bathily geforderte Annahme gemeinsamer Wahlgesetze vor, jedoch zunächst die Einsetzung einer neuen Einheitsregierung mit Übergangscharakter in Tripolis. Mit der Abwahl al-Mishris ist dies und damit die Ablösung des in Tripolis residierenden Ministerpräsidenten zunächst gescheitert, was Dbeiba wohl auch beabsichtigt hatte. Neue, landesweit einheitliche Wahlgesetze sind die Voraussetzung für die Abhaltung von libyenweiten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die bereits Ende 2021 hätten stattfinden sollen.

Umstritten war der Kompromiss zwischen Hohem Staats- und Abgeordnetenrat jedoch schon länger. Mehrfach kritisierte der UN-Gesandte die Forderung nach einer neuen Übergangsregierung vor Wahlen als »einseitig« und als Teil einer Blockadepolitik und Selbstbereicherung durch »endlose Übergangsabsprachen«, zuletzt bei ­einem Treffen mit Stammesführern am 30. Juli. Dabei hatte Bathily zu Beginn seiner Amtszeit im September 2022 noch auf die Kooperation der beiden Parlamentskammern im Westen und Osten des Landes gehofft, wirft beiden Gremien jedoch mittlerweile vor, Wahlen verhindern zu wollen.

Auch internationale Expert:innen stimmen dieser Einschätzung weitgehend zu. Der Libyen-Experte Tarek Megerisi vom Think Tank European Council on Foreign Relations sagte der italienischen Nachrichtenagentur Agenzia Nova, der Wechsel im Hohen Staatsrat könne die Spaltung zwischen dem Osten und dem Westen des Landes vertiefen und voraussichtlich »das Ende der engen Beziehung zwischen dem Staatsrat und dem Repräsentantenhaus« bedeuten. Der Weg zu Wahlen gleiche nun einem »Weg ins Verderben« wegen einer »zutiefst verrotteten« politischen Struktur.

Besonders viel Aufmerksamkeit erhält Libyen von der neuen italienischen Regierung unter Giorgia Meloni.

Faktisch hatte sich ein Bündnis zwischen al-Mishri als Vertreter des Hohen Staatsrats und Aguila Saleh für das Repräsentantenhaus herausgebildet, dem sich ein Bündnis aus Dbeiba und seinem Kabinett entgegensetzte; ihm hat sich mittlerweile auch der ostlibysche Warlord Khalifa Haftar angeschlossen. Dbeiba, der zunächst als austauschbarer Strohmann galt, hat sich in den vergangenen zwei Jahren eine eigene Hausmacht und Einfluss verschafft. So war er in der Lage, Khalifa Haftar durch das Versprechen eines Anteils an den Öleinnahmen einzubinden, so dass dieser Angriffe auf Ölförderanlagen weitgehend einstellte. Statt sich gegenseitig zu blockieren, arbeiten Libyens jeweilige Führungsschichten auf eine Aufteilung der Beute hin. Zwar bereichern sich in erster Linie Politiker und Milizen an den Öleinnahmen, doch profitiert von der wirtschaftlichen Stabilität auch das erste Mal seit der Revolution von 2011 der Rest der Bevölkerung.

Auch andere Entwicklungen steigern Dbeibas Popularität: Wegen der verbesserten Sicherheitslage kehren immer mehr Auslandsvertretungen von Tunis nach Tripolis zurück, darunter seit dem 14. Juli auch der Großteil des Personals der deutschen Botschaft. Besonders viel Aufmerksamkeit erhält Libyen jedoch von der neuen italienischen Regierung unter Giorgia Meloni, die sowohl Dbeiba als auch dessen ostlibyschen Rivalen Haftar Vorteile in Aussicht stellt, vorausgesetzt, sie gehen gegen die Migration in Richtung EU vor.

So durfte Dbeiba an der Seite der Repräsentanten anderer Mittelmeeranrainerstaaten am 23. Juli einem Migrationsgipfel in Rom beiwohnen. Bereits am 9. Juli hatte er angekündigt, dass Italien bereit sei, ab September als erste Regierung der EU das Direktflugembargo gegen Libyen aufzuheben und mehr Visa auszustellen. Am 24. Juli war es so weit: Das erste Flugzeug startete in Rom und landete in Tripolis, mit Dbeiba an Bord. Über ein tatsächliches Ende des Flugembargos wird jedoch nicht in Rom entschieden, sondern in Brüssel.