Tödliche Hilfe
Menschenrechts- und Hilfsorganisationen haben die Zusammenarbeit der EU mit libyschen Behörden schon häufig kritisiert. Die Vorwürfe, dass die EU damit Kräfte unterstütze, die schwere Verbrechen begehen, wurden nun durch einen UN-Bericht bestätigt. Die 2020 vom UN-Menschenrechtsrat beauftragte Independent Fact-Finding Mission on Libya legte am 27. März ihren Abschlussbericht vor. Organisationen, die »Verbrechen gegen die Menschheit« begangen hätten, »erhielten technische, logistische und finanzielle Unterstützung von der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten, unter anderem für das Abfangen und die Rückführung von Migranten«.
Der UN-Bericht ließ sich nicht so leicht ignorieren wie die Vorwürfe von NGOs, das Medienecho war ungewöhnlich groß. Man nehme die Vorwürfe »sehr ernst« und habe die Ermittlungen unterstützt, sagte Peter Stano, ein Sprecher der EU-Kommission, am Tag nach der Veröffentlichung. Man habe versucht, »die Situation der in Libyen gestrandeten Menschen zu verbessern« und dabei mit UN-Institutionen zusammengearbeitet. Auch habe man die beschuldigten Organisationen nicht direkt bezahlt.
Außer Zweifel steht aber die Unterstützung für die »Libysche Küstenwache und Hafensicherheit«, der die EU im Februar ein Patrouillenboot übergab – vier weitere sollen folgen. Der UN-Bericht wirft der Küstenwache vor, in den von ihr kontrollierten Lagern schwere Menschenrechtsverbrechen begangen zu haben. Entsprechendes gilt auch für das Directorate for Combating Illegal Migration (DCIM) und den Stability Support Apparatus (SSA), die seit 2017 vom italienischen Innenministerium mit Schiffen, technischer Unterstützung und in der Ausbildung von Personal unterstützt werden; die EU fördert dies offiziell im Rahmen des Emergency Trust Fund for Africa mit Millionenbeträgen. In die Unterstützung der genannten Organisationen sind auf EU-Ebene zudem die EU-Grenzbehörde Frontex und die zivile Grenzschutzmission Eubam Libya involviert, die von der Italienerin Natalina Cea geleitet wird.
Für die international anerkannte Regierung in Tripolis ist der Pakt mit den Milizenführern überaus lukrativ, garantiert er doch allen Beteiligten Zugang zu den Reichtümern des Landes.
Die Küstenwache soll vor allem Geflüchtete davon abhalten, die Überfahrt nach Europa zu unternehmen. Gelingt dies nicht, versucht die Küstenwache, diese auf hoher See abzufangen, um die Geflüchteten anschließend nach Libyen zurückzubringen. Dies ist nach internationalem Recht illegal, da das Bürgerkriegsland Libyen nicht als sicheres Herkunftsland eingestuft werden kann. Auch ist dokumentiert, dass die Küstenwache in mehreren Fällen auf Seenotretter:innen schoss oder anderweitig deren Arbeit behinderte. Illegale Rückführungen aus Europa sind ebenfalls dokumentiert, so ein Fall aus dem Jahr 2018, in dem ein italienischer Kapitän bereits aus Seenot gerettete Geflüchtete an die libysche Küstenwache übergab. Das blieb jedoch nicht folgenlos, ein italienisches Gericht verurteilte den Kapitän 2021 zu einem Jahr Haft.
Das DCIM, das der international anerkannten libyschen Regierung in Tripolis untersteht, ist offiziell für die Verwaltung der Internierungslager in Libyen verantwortlich, in denen Migrant:innen festgehalten werden. Laut dem UN-Bericht geschehen hier die meisten Verbrechen gegen die Migrant:innen: Mord, Folter, Gewalt, Zwangsarbeit, sexuelle Versklavung, erniedrigende rassistische und homophobe Behandlung. Das Wachpersonal fordere häufig Schutzgeld und bedrohe, schlage oder foltere diejenigen, die nicht zahlen wollten oder könnten. Viele Migrantinnen seien nach Vergewaltigungen schwanger geworden. Zudem müssten sich die Betroffenen oft freikaufen, um die Lager und damit das Land verlassen zu dürfen.
Die EU behandelt das DCIM und die Küstenwache de facto als staatliche Institutionen. Der Bericht stellt jedoch fest, dass das DCIM und wichtige Teile der Küstenwache von Milizen geleitet werden, die sowohl vom Menschenschmuggel als auch von dem Gewaltregime in den Lagern direkt profitieren. Die Küstenwache kommandiert der Milizenführer Abd al-Rahman Milad, der wegen Menschenhandels seit 2018 auf der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrats steht, den DCIM leitet der Milizenführer Mohammed al-Khoja, der SSA untersteht dem mächtigen Milizenführer Abd al-Ghani al-Kikli.
Von der Regierung in Tripolis ist kein Widerspruch, weniger noch ein Vorgehen gegen die Verbrechen der Milizenführer erwarten. Die Regierung ist vielmehr von den Milizen abhängig und von diesen unterwandert, so dass die bewaffneten Gruppen unter dem Deckmantel offizieller Behörden freie Hand haben, um ihren kriminellen Geschäften nachzugehen.
Für Ministerpräsident Abdul Hamid Dbeiba und seine Regierung ist der Pakt mit den Milizenführern überaus lukrativ, garantiert er doch allen Beteiligten Zugang zu den Reichtümern des Landes, weil sie die Ölexporte und die Zentralbank, die dessen Erlöse verwaltet, kontrollieren. Ein erheblicher Teil dieser Einnahmen wird an die Milizen weitergereicht, im Austausch für Loyalität und das Versprechen, keine Minister zu entführen oder zu töten.
Die Milizen konkurrieren jedoch nach wie vor untereinander um Einfluss und Territorium, so dass die Lage weiterhin instabil ist. Eine ostlibysche Milizenkoalition unter der Führung von Khalifa Haftar hätte ebenso gern ausschließlichen Zugang zu den staatlichen Ölgeldern, konnte sich jedoch weder militärisch noch politisch gegen die Milizen Dbeibas durchsetzen. Das von Haftars Koalition abhängige Parlament in Tobruk und dessen mit Dbeiba konkurrierender Ministerpräsident Fathi Bashagha geraten immer mehr ins Hintertreffen.
In jüngerer Zeit konnte Dbeiba Prestigeerfolge für sich reklamieren. So überstellte er Anfang Dezember einen mutmaßlichen Drahtzieher des Lockerbie-Anschlags – 1988 sprengte der libysche Geheimdienst eine US-amerikanische Passagiermaschine über dem schottischen Ort – an die USA, nachdem eine Miliz diesen in seinem Machtgebiet ausfindig gemacht hatte. Bashagha fiel nichts Besseres ein, als dieses Vorgehen als Verletzung libyscher Souveränität zu verurteilen und zu Demonstrationen dagegen aufzurufen.
Nach Jahren der Versuche, die Macht im gesamten Land zu ergreifen, dürfte bei Haftar und seiner Libyschen Nationalen Armee die Erkenntnis gereift sein, dass dies aussichtslos ist. Von Ölblockaden hat Haftar Abstand genommen, seit sich das Ölministerium unter einer neuen Leitung darum bemüht, auch die Wünsche der ostlibyschen Milizen und ihrer Unterstützer zu berücksichtigen. Die Aussicht auf Frieden zwischen den beiden Machtblöcken wird damit besser, allerdings wird der dubiose Pakt führender libyscher Politiker mit den Milizen zunächst bestehen bleiben.
Der kleine Fortschritt ist auch ein Verdienst des neuen Vorsitzenden der United Nations Support Mission in Libya, des Senegalesen Abdoulaye Bathily. Der Posten war auf Betreiben Russlands längere Zeit vakant gewesen, erst am 2. September hatte Bathily seine Arbeit aufnehmen können. Mittlerweile verfolgt er einen Friedensplan, der vorsieht, dass zuerst eine überall gleichermaßen geltende gesetzliche Basis für die Abhaltung von Wahlen geschaffen wird. Diese Gesetzesgrundlage muss von den beiden Parlamenten in West- und Ostlibyen gemeinsam beschlossen werden, so dass Bathilys Arbeit vor allem auf Vermittlung beruht. Doch beide Parlamente sind unpopulär, die Abgeordneten können nicht erwarten, dass sie ihre Sitze behalten. An baldigen Wahlen dürften sie also wenig Interesse haben.
Monatelang gab es unter anderem deswegen kaum Bewegung. Im Januar brachen die Parlamente sogar kurzzeitig den Kontakt zueinander ab, als beide Seiten Pläne öffentlich machten, in Konkurrenz zueinander Verfassungsgerichte in ihren jeweiligen Machtgebieten zu etablieren. Diese Vorhaben wurden jedoch aufgegeben. Immerhin wurde eine gemeinsame Parlamentskommission mit jeweils sechs Mitgliedern beider Abgeordnetenvertretungen eingerichtet, die sich am 7. April zum ersten Mal traf. Es ist jedoch zu befürchten, dass dies nicht zu schnellen Ergebnissen führen wird.
Welche Gefahren aus der instabilen Lage erwachsen können, zeigt eine Meldung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) vom 16. März: Bei einer Inspektion im von ostlibyschen Milizen kontrollierten Sabha sei aufgefallen, dass 2,5 der insgesamt 1.000 Tonnen im Land befindlichen radioaktiven Materials nicht auffindbar seien. Es handelt sich um yellowcake, ein Urankonzentrat, das vom 2003 aufgegebenen libyschen Atomwaffenprogramm Muammar al-Gaddafis übrig blieb. Umgehend behauptete ein Sprecher der Libyschen Nationalen Armee, das Material sei nie verlorengegangen, sondern nur einige Kilometer entfernt gelagert und schon zurückgebracht worden. Die IAEA bestätigte diese Darstellung am 24. März. Der Vorgang bleibt jedoch rätselhaft, da unklar bleibt, warum das Material abtransportiert wurde.
Gefährlich ist die Lage im nur notdürftig befriedeten Bürgerkriegsland aber vor allem für Libyer:innen und Migrant:innen. Der Status quo mag im Interesse ziviler und militärischer Machthaber sein, nicht jedoch der großen Mehrheit der Menschen im Land.