Schöner Ausflug mit früher Abreise
Die Mentalität deutscher Fußballerinnen und Fußballer hat sich geändert. Früher waren deutsche Mann- und Frauschaften in Turnieren gefürchtet; das ist schon lange nicht mehr so. Vorbei die Zeiten, in denen die englische Stürmerlegende Gary Lineker sagte: »Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen.«
Waren deutsche Teams früher so etwas wie die S-Klasse unter den internationalen Kickern, sind sie heute eher mit dem Stromauto ID3 von Volkswagen zu vergleichen: Zwar teuer, aber mit geringer Reichweite und technisch der Konkurrenz heillos unterlegen.
Die Nationalmannschaft der Männer wies bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 den Weg und schied schon in der Gruppenphase aus. Die männliche U 21 folgte diesem Beispiel im Juni und sicherte sich mit dem letzten Gruppenplatz bei der Europameisterschaft lange Ferien.
Und auch bei der Frauen-WM in Australien und Neuseeland zeigte die Damenauswahl des Deutschen Fußballbunds (DFB) Anfang August, dass sie sich dem neuen »Deutschlandtempo« (Bundeskanzler Olaf Scholz, SPD) nicht verschließt: Nach einem 6:0-Sieg gegen Marokko und einer 2:1-Niederlage gegen Kolumbien reichte ihnen ein Unentschieden gegen Südkorea, um schon nach der Gruppenphase nach Hause reisen zu können.
Dumm nur, dass der DFB darauf nicht vorbereitet war: Weil man dort nicht glaubte, dass es der Frauennationalmannschaft gelingen würde, so früh auszuscheiden, hatte man versäumt, Vorkehrungen für eine zeitige Rückreise zu treffen, und musste hektisch Tickets für Flüge nach Deutschland buchen. Die Freude einer gemeinsamen Rückreise blieb dem DFB-Team deshalb verwehrt.
Entspannt kann man sich nun darauf konzentrieren, im kommenden Jahr ein guter Gastgeber bei der Europameisterschaft der Männer zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Nationalmannschaft den anderen Teams nach der Gruppenphase auf die Nerven geht, ist gering.
Das alles hat auch seine guten Seiten: Die Chancen stehen gut, im kommenden Sommer in Biergärten und Kneipen nicht von deutschen Fußballfans behelligt zu werden. Bei Rewe wird es wahrscheinlich im Eingangsbereich einen Grabbeltisch mit billigen Erdbeeren und nicht mit Nationalmannschaftstrikots geben und Autos mit Deutschlandfahnen wird man ebenfalls entweder nur kurze Zeit oder gar nicht sehen.
Für die Fußballspieler jedweden Geschlechts ist das Leben leichter geworden: Sie können sich auf ihre Arbeit in den Vereinen konzentrieren und verschwenden nicht so viel Zeit in irgendwelchen Trainingslagern. Der Stabilität privater Beziehungen der Kicker und Kickerinnen sind kürzere Abwesenheiten wahrscheinlich zuträglich.
Waren deutsche Teams früher so etwas wie die S-Klasse unter den internationalen Kickern, sind sie heute eher mit dem Stromauto ID3 von Volkswagen zu vergleichen: Zwar teuer, aber mit geringer Reichweite und technisch der Konkurrenz heillos unterlegen.
Dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird, ist unwahrscheinlich. Eher dürfte der DFB neue Konzepte, die er zurzeit bei den Kids ausprobiert, nach und nach auf die Erwachsenen ausdehnen. Um den Leistungsdruck zu minimieren, sollen in der G- und F-Jugend künftig keine Meisterschaftsrunden mehr ausgetragen werden, wie aus einem Beschluss des 44. Ordentlichen DFB-Bundestags im März hervorgeht. Stattdessen wird es Spielnachmittage und Festivals mit mehreren Mannschaften und Spielfeldern geben. Damit alle Kinder zum Zug kommen, wird zudem ein Rotationsprinzip mit festen Wechseln der Spieler und Spielerinnen angewandt.
Damit wird der Fußball menschlicher. Wer erinnert sich nicht an das Jahr 2001, als die Anhänger von Schalke 04 für wenige Minuten glaubten, ihr Verein sei zum ersten Mal seit der Zeit, als in Gelsenkirchen noch Kohle gefördert wurde, Meister geworden? Als sie dann mit der ebenso grausamen wie banalen Tatsache konfrontiert wurden, dass die Schale dank eines Tores in der Nachspielzeit mal wieder nach München ging, brachen Menschen dort auf der Straße zusammen. Oder als Uli Hoeneß, damals noch selbst im DFB-Trikot unterwegs, am 20. Juni 1976 beim Finale der Europameisterschaft in Belgrad den Ball beim Elfmeterschießen so weit in den Nachthimmel schoss, dass er bis heute nicht gefunden wurde und Hoeneß aus Verzweiflung seine Hände vors Gesicht schlug?
Der Vergangenheit angehören könnten auch Demütigungen der Art, wie Borussia Dortmund sie am 27. Mai dieses Jahres erleben musste, als die Mannschaft von Trainer Edin Terzić mit einem 2:2 gegen Mainz im eigenen Stadion die wahrscheinlich letzte Chance auf den Meistertitel in diesem Jahrhundert vergab. Bald könnten auch die Profis auf eines der vier Tore schießen, die bei den Kids heute schon auf dem Platz stehen, und ihren Spaß haben. Die Fans auf den Tribünen werden glücklich ihre veganen Würstchen essen, alkoholfreies Bier trinken und einfach einen guten Tag haben.
Das alles weiß man auch in der Chefetage des Fußballs: Natürlich denkt Bundestrainerin der Frauen, Martina Voss-Tecklenburg, nicht an Rücktritt. Wie ihre Kollegen Joachim »Jogi« Löw und Hans-Dieter »Hansi« Flick nach den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 will sie sich ihrer Verantwortung stellen und – nein, nicht aufhören, sondern weitermachen. Was bedeuten schon ein paar Niederlagen, wenn man unter dem Strich doch mit vielen Menschen einen schönen Ausflug machen konnte, bei dem die meisten ihren Spaß hatten?
In Australien besuchte das DFB-Team gerne Sydney, und das ist wirklich eine schöne Stadt. Bei der WM in Katar logierten die Herren in Shamal, einer wunderbaren Stadt, in der es viel Sand, hervorragend ausgebaute Straßen und abgestorbene Mangroven gibt. Jemand wie Mannschaftskapitän Manuel Neuer, der in Gelsenkirchen-Buer aufgewachsen ist, hat als Kind wohl nie eine Straße ohne Schlaglöcher zu sehen bekommen.
Bereits nachdem Deutschland bei der Weltmeisterschaft in Russland 2018 ausgeschieden war, sah sich Lineker, heute Fernsehexperte, gezwungen, seinen berühmten Spruch anzupassen. »Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach und am Ende gewinnen nicht mehr immer die die Deutschen«, twitterte der Engländer nach der deutschen WM-Niederlage gegen Südkorea. Heute wäre es wohl angebracht, den Spruch erneut anzupassen.