Madonna kommt ins Rentenalter

Eine Europäerin in Amerika

Die Besten werden schon zu Lebzeiten beerdigt: Zum 65. Geburtstag von Madonna Louise Ciccone.

Die Medien berichten über die alternde Madonna in einem Tonfall, als läge sie bereits in der Grube. Wegen ihres Aufstiegs zum Pop-Idol der achtziger Jahre, das alters-, klassen- und geschlechterübergreifend Akademiker wie Ungebildete begeisterte, schon in jungen Jahren korrumpiert, wurde sie demnach seit der Jahrtausendwende zum Opfer ihres Erfolgs. Durch Kommerzialisierung banal geworden, verwandelte sie sich in ihren eigenen Unterhaltungskonzern, biederte sich bei allen Weltreligionen, bei Kindern, Queers und Latinos an, alterte aber trotzdem immer schneller, weshalb sie ihre bröckelnde Fassade durch Schönheitsoperationen zu restaurieren suchte, in deren Folge sie hässlich wurde.

Ihre Auftritte gerieten cringe, sie sah nicht mehr aus wie Madonna, sondern wie ein Madonna-Fake, von dem man befürchten musste, dass es bald auseinanderfallen werde wie einst Michael Jackson. Ihre jüngsten Shows musste sie wegen einer bakteriellen Infektion absagen, der Boulevard informierte mit lüsterner Anteilnahme: »Die Familie bereitet sich auf das Schlimmste vor.«

Noch vor ihrem 65. Geburtstag druckte der Stern eine Würdigung, die wie ein Epitaph klang: »Madonna: Das Leben der Queen of Pop in Bildern«. Ihre Lebensleistung wurde in den politisch korrekten Zeilen zusammengefasst: »Sie bewies sich in den Achtzigern in der männerdominierten Musikbranche (und) schrieb nicht nur Musik- und Modegeschichte, sondern setzte sich auch für Minderheiten ein.« Noch von der Coolsten und Einfallsreichsten, die die Branche in den letzten 40 Jahren hervorgebracht hat, bleibt nur übrig, was sich für die Gegenwart verwerten lässt: Sie war gegen das ­Patriarchat und für Migranten.

Dasselbe Milieu, das ihr zum Geburtstag solche Mittelmäßigkeiten hinterherruft, hat sie noch vor einem halben Jahr wegen der Traurigkeit ihrer jüngsten Performances verhöhnt. Ob die Mischung aus hohler Hochachtung und verkniffener Häme einer linken Kritik an plastic surgery oder der reaktionären Verachtung einer in die Jahren gekommenen self-made woman verpflichtet war, ließ sich dabei kaum unterscheiden.

Aus dem Image des Mädchens von nebenan, das ohne Vorbildung durch Spontaneität und Menschen­klugheit etwas aus sich macht, entwickelte Madonna spätestens seit »Like a Prayer« (1989) einen labyrinthisch verzweigten eigenen Kosmos.

Bild der Frau kommentierte den Auftritt der »Queen of Horror« bei der Verleihung der Grammy Awards im vergangenen Februar in Los ­Angeles mit den Worten, sie habe sich »derart verschnibbelt gezeigt, dass lediglich eine alterslose Fratze übrig geblieben« sei, bekundete »Trauer darüber, wie sich eine so toughe Power-Frau derart entstellen« könne, und zitierte den plastischen Chirurgen Christian Roessing mit den Worten, an ihrer Selbst­entstellung hätten neben Botox und Hyaluron »Fäden aus Polymilch­säure« mitgewirkt.

Die Taz nahm die Binsenweisheit, dass Madonna eine »Kunstfigur« sei, zum Anlass für eine akribische Rekonstruktion ihrer schrittweisen Selbstentleiblichung, beginnend mit der ersten Welttournee, die sie 1987 absolvierte: Mit Botox-Injektionen fing sie Ende 20 an, dann folgten erste Schönheitsoperationen wie Facelifting, seit der Jahrtausendwende Unterspritzungen des Gesichts mit Eigenfett, Liderstraffung und Transferierung von Bauchfettzellen: Hätte die Autorin Feline Dion sich mit Madonnas Musik nur halb so viel wie mit ihren Patientenakten befasst, hätte sie eine interessantere Frage als die gestellt, »warum wir Beautyeingriffe viel heftiger sanktionieren, wenn sie sich an gängigen Schönheitsidealen stoßen«.

»Wir« verfügen über Urteilsfähigkeit, während »sie« eine Ausgeburt des Betriebs ist: Dieser Logik folgen fast alle Meinungsbekundungen über die alternde Madonna. Dabei war sie vielleicht eine der Letzten im Popgeschäft, die das Gegenteil einer Ausgeburt der Kulturindustrie gewesen ist. Vielmehr hat sie sich dem Betrieb ausgesetzt, um ihn im eigenen Sinne zu formen, fast könnte man sagen: ihn sich zu unterwerfen.

Ihre frühe Biographie wirkt wie ein Nachklang des Ideals vom American Dream: Geboren in Michigan als Tochter eines Automechanikers, der Sohn italienischer Einwanderer war, und einer Frankokanadierin, war sie fünf Jahre alt, als die Mutter an Krebs starb. Als Schülerin eines katholischen Klosters erfuhr sie eine strenge Erziehung und gehörte in ­allen Fächern zu den Besten. Es folgten eine abgebrochene Ausbildung zur Tänzerin, der Umzug nach New York, Auftritte zu selbstproduzierten Liedern in Diskotheken, Kontakte mit Diskjockeys, darunter Mark Kamins, der ihr zu ihrem ersten Plattenvertrag verhalf, schließlich der Durchbruch mit den Alben »Ma­donna« (1983) und »Like a Virgin« (1984). Sie spielte auch in populären Filmen mit, etwa in Susan Seidelmans Verwechslungskomödie »Desperately Seeking Susan« (1985) und in »Who’s That Girl« (1987), für den sie auch den Soundtrack gestaltete.

Aus dem Image des Mädchens von nebenan, das ohne Vorbildung durch Spontaneität und Menschen­klugheit etwas aus sich macht, entwickelte Madonna spätestens seit »Like a Prayer« (1989) einen labyrinthisch verzweigten eigenen Kosmos, in dem sich Erfahrungsgehalte der katholischen Erziehung und Phantasien von Schamlosigkeit und Blasphemie, Imagines des angehimmelten und erbarmungslosen Vaters, Ikonographien der reinen und der verdorbenen Frau, des Kindes und der Lolita, Reverenzen an die Spuren südeuropäischer Geschichte in Amerika und Erinnerungssplitter der uneingelösten Hoffnungen auf die Vereinigten Staaten als Land mit ­Zukunft und ohne lastende Vergangenheit (auf dem Album »American Life« von 2003) verschränkten.

Gleichzeitig hat Madonna immer auch auf dem Theater und in Filmen gespielt (1991 in der Selbstdokumentation »In Bed with Madonna«), ­einen erotischen Bildband über SM und Fetischismus herausgebracht (»Sex«, 1992), seit 2003 eine Reihe von Kinderbüchern veröffentlicht, Mode entworfen, Fotobände mit Karl Lagerfeld und Camille Paglia konzipiert, Kinder aus dem afrikanischen Malawi adoptiert, sich für die gleichgeschlechtliche Ehe eingesetzt und auch sonst alles getan, um das Missverständnis zu befördern, sie sei ein um sich selbst kreisender Star, der so lange am eigenen Image arbeitet, bis von ihm selbst nichts mehr übrig ist.

In Wahrheit war sie immer schon eine viel vergangenere Person, als ihre Fans und Gegner meinten. In gewisser Weise war sie eine der letzten großen Unternehmerinnen des ­bürgerlichen Zeitalters, die ihr Leben darauf gesetzt hat, den Apparat, dem sie sich auslieferte, so umfassend wie möglich für den Zweck des eigenen Selbstausdrucks, für die ­Artikulation ihrer intimsten, abgründigsten, sehnsüchtigsten Phantasien in Dienst zu nehmen, aus denen ­dadurch das Gegenteil des bloß Subjektiven, nämlich ästhetische Objektivation wurde.

Madonna hat sich dem Betrieb ausgesetzt, um ihn im eigenen Sinne zu formen, fast könnte man sagen: ihn sich zu unterwerfen.

Ihr ist in der populären Musik gelungen, was im Film dem mit ihr auch sonst durchaus geistesverwandten Alfred Hitchcock gelang: ein hermetisch abgeschlossenes künstlerisches Universum zu schaffen, das in jeder Nuance, ja noch im Scheitern die unverwechselbaren Spuren desjenigen trägt, der es hervorgebracht hat, und durch solche Individuierung, die die Mechanismen der Massenkultur rücksichtslos den eigenen Absichten unterwirft, das All­gemeine auszudrücken. Nur was noch in der abwegigsten Verästelung Ausdruck unwiederholbarer Indi­vidualität ist, wendet sich an alle Menschen und kann von jedem verstanden werden.

Wie man auch ohne Hitchcock-Expertise eine Szene aus einem Hitchcock-Film sofort als Hitchcock-Szene erkennt, braucht man kaum ­etwas von Madonna gehört zu haben, um »Papa, Don’t Preach«, »Material Girl« oder »La Isla Bonita« als Madonna-Song zu erkennen. Das Erkennen ist das Wiedererkennen: nicht, weil die Lieder so stereotyp wären, dass man ihre Masche sofort durchschaute, sondern weil Madonnas Musik, ihre Stimme und ihr Gestus den Abhub von Kindheitserinnerungen – Vergessenes, Abgeschriebenes, Verdrängtes – evozieren, von dem jeder eine Ahnung hat, ohne es zu wissen.

Auch das widersprüchliche Verhältnis zum Katholizismus, eine weitere Affinität zu Hitchcock, ist ein solches Erinnerungssediment. Wer Madonna für ihre blasphemischen, exhibitionistischen Züge preist oder schmäht, begreift nicht, dass sich in der Schändung des Heiligen die Erfahrung des Höchsten realisiert. Die Koketterien mit der Kabbala und dem Buddhismus und der eklektische Umgang mit religiösen Symbolen können nicht darüber hinwegtäuschen, in welchem Maße Madonnas Musik und Selbstinszenierung dem italienischen und auch dem lateinamerikanischen Katholizismus verbunden sind, der der lebensgeschichtliche Nährstoff noch ihrer peinlichsten Entgleisungen geblieben ist. Das Gespür dafür, dass sie in mancher Hinsicht eher eine Europäerin als eine Amerikanerin, ja womöglich eine weiße alte Frau in Kostümen aus der Kleiderkammer des alten Südeuropa ist, dürfte unter den unbewussten Beweggründen derjenigen, die sie mit Schmutz bewerfen, nicht der unwichtigste sein.