Stumpfe Freudlosigkeit
»Jetzt nimmt uns diese links-woke Gesellschaft noch die Bundesjugendspiele!« So gellt es durch den Blätterwald. Was ist passiert? In Grundschulen soll bei den Bundesjugendspielen die Leistung zukünftig freier beurteilt und den Kindern so mehr Spaß am Sport vermittelt werden.
Die Bundesjugendspiele gibt es seit Beginn der fünfziger Jahre. Wie so vieles im westdeutschen Sport gehen auch sie auf eine Idee des früheren NS-Funktionärs Carl Diem zurück, der damit an die Reichsjugendspiele der zwanziger Jahre anknüpfen wollte. Diem, der noch im März 1945 die Hitlerjugend zum Opfergang für den Führer aufrief, gründete zwei Jahre später die Deutschen Sporthochschule in Köln, deren Rektor er bis zu seinem Tod 1962 blieb.
Aber die historische Grundlage der Schulsportveranstaltung war im Jahr 2015 nicht der Grund für eine an die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) gerichtete Online-Petition, die die Abschaffung der Bundesjugendspiele forderte und über 20.000 Unterstützer fand. Sie machte vielmehr geltend, dass sich für viele Kinder »eine alljährlich wiederkehrende öffentliche Demütigung« mit den Bundesjugendspielen verbinde.
Einer der Gründe, warum es für Kinder kaum einen Ausweg aus dieser Erfahrung gibt, ist ein Beschluss der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1979, der alle Schülerinnen und Schülerinnen zur Teilnahme an den Bundesjugendspielen verpflichtet. Während »Jugend musiziert«, Vorlesewettbewerbe oder sonstige Leistungsschauen in Schulen darauf basieren, dass Schülerinnen und Schüler sich an ihnen freiwillig aufgrund ihrer Interessen und Fähigkeiten beteiligen, ist dies bei den Bundesjugendspielen anders.
Einmal im Jahr besteht ein Schultag daraus, möglichst schnell zu rennen, weit zu werfen und hoch zu springen. Unabhängig davon, ob man das gut kann, Spaß daran oder überhaupt Lust dazu hat. Eine erstaunlich hohe Zahl von Erkrankungen an genau diesem einen Tag ist die Folge. Nie wurden beispielsweise übers Jahr verteilt mehr Mitschülerinnen und Mitschüler des Autors dieser Zeilen geimpft als am Tag vor den Bundesjugendspielen. Klar, dass man dann wegen der Nebenwirkungen leider nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnte.
Die Bundesjugendspiele gehen auf eine Idee des früheren NS-Funktionärs Carl Diem zurück, der damit an die Reichsjugendspiele der zwanziger Jahre anknüpfen wollte.
Wie wenig es bei den Bundesjugendspielen in Wirklichkeit darum geht, »Freude am Sport zu stärken« und »Freude an Bewegung zu fördern«, wie mantraartig behauptet wird, zeigt sich schon an der Auswahl der Sportarten. Denn die bei Kindern beliebtesten Sportformen –Sportspiele wie Fußball oder auch Völkerball – kommen nicht vor, stattdessen gibt es nur Individualsport. Der Teamgedanke kommt nicht zum Tragen.
Dies drückt sich auch in der Gremienbesetzung aus. Im Ausschuss für die Bundesjugendspiele sitzen mit dem Deutschen Leichtathletik-Verband, dem Deutschen Turnerbund und dem Deutschen Schwimmverband die drei Organisationen eben jener Sportarten, die als Bundesjugendspiele von Schulen angeboten werden können.
Verteidiger der Veranstaltung verweisen darauf, wie wichtig es sei, Kinder zur Bewegung zu animieren und ihnen zu zeigen, was sie erreichen können. Wer in Sport nicht so gut ist, mit dem könnten Eltern doch üben. Schließlich täten sie das in Deutsch oder Englisch doch auch.
Dass man Kindern Freude an Bewegung, so man sie für notwendig hält, doch wohl besser über Spielformen, mit Freiwilligkeit und Spaß vermitteln kann, geht dabei unter. Dazu kommt, dass Eltern es für ihr Kind und dessen weiteres Leben durchaus als vorteilhaft ansehen können, wenn es zum Beispiel Fremdsprachen lernt – aber kann man das wirklich auch für eine Bundesjugendspiel-Disziplin wie Ballweitwurf so sehen?
Während Eltern ansonsten auf Elternabenden oder in Whatsapp-Gruppen die tieferen Gründe für den Inhalt praktisch jeder Schulstunde ausleuchten, scheint die Frage »Wofür braucht man das im Leben?« für die Verteidiger der Bundesjugendspiele keinerlei Berechtigung zu haben. Kann jemand sagen, wann dieser Moment im Leben noch kommen könnte, an dem es von Bedeutung ist, wie weit man mit Anlauf springen kann? Oder weiß irgendjemand, was es für den weiteren Werdegang eines Menschen bedeutet, wenn sein Schlagball bereits nach zehn Metern wieder den Rasen berührt?
Am Ende sind die Bundesjugendspiele nichts anderes als ein Sinnbild für die Verwertungslogik des Kapitalismus. Man muss sich fügen und mitmachen, um vielleicht belohnt zu werden – oder manchmal auch keine Belohnung zu bekommen. Dabei geht es nicht um Interesse oder gar Individualität. Zum Schluss entscheiden triste Listen, in denen fein säuberlich für jede gelaufene Zehntelsekunde und jeden gesprungenen Zentimeter Punkte vergeben werden, darüber, in welche Leistungskategorie man fällt. Und wer ganz unten steht, bekommt eben nichts (oder wie soll man eine Urkunde für die bloße Teilnahme sonst verstehen?).
Es kann, frei nach der Punkband Slime, nur eine Forderung geben: Die Bundesjugendspiele müssen sterben, damit wir leben können!
So lernt man schon in frühen Jahren, dass in diesem System nur diejenigen Wert haben und Gewinner sein können, die sich anstrengen und Leistung erbringen. Ob sich die, die bei den Bundesjugendspielen einen der Plätze an der Sonne ergattern konnten, viel aus der edel aufgemachten Ehrenurkunde machen, ist dabei die Frage. Aber immerhin ist darauf ja die Unterschrift des Bundespräsidenten zu sehen. Na dann, herzlichen Glückwunsch!
Die geplante Neuregelung macht nichts besser. So soll beispielsweise zukünftig beim Weitsprung nicht mehr das Maßband ausgepackt werden, stattdessen soll eine Einteilung in Zonen die erreichte Leistung dokumentieren. Zudem wird das Ganze zukünftig offiziell nicht mehr als Wettkampf, sondern als Wettbewerb bezeichnet, was, machen wir uns nichts vor, nichts als Wortkosmetik ist. Auch die Vergabe der Urkunden (ergo die Kategorisierung) wird zwar umgestellt, aber nicht abgeschafft. Die besten 20 Prozent der Klasse erhalten zukünftig eine Ehrenurkunde, die nächsten 50 Prozent eine Siegerurkunde und für die unteren 30 Prozent gibt es nichts. So können die sich dann schon mal direkt an das Leben »da unten« gewöhnen.
Jegliche Veränderungen, die das System Bundesjugendspiele sanfter machen wollen, sind nur ein Herumdoktern an den Symptomen. Was bleibt, ist der autoritäre, verordnende Charakter, der Individualität und Freiwilligkeit keinen Raum gibt. Und außerdem den Kindern auf entwürdigende Art und Weise zeigt, was sie erwartet, wenn sie nach gesellschaftlichen Maßstäben nicht funktionieren.
Deshalb kann es frei nach der Punkband Slime nur eine Forderung geben: Die Bundesjugendspiele müssen sterben, damit wir leben können!