Zarenanhänger haben in Jekaterinburg den 105. Jahrestag der Ermordung ihrer Idole gefeiert

Helden, Zaren, Heilige

In Jekaterinburg und Umgebung fanden die Feierlichkeiten zum Gedenken an die Zarenfamilie statt, die in den revolutionären Wirren vor 105 Jahren erschossen worden war.

»Wann beginnt die Kreuzprozession?« Die Frage richtet sich an einen blonden Hünen in schwarzer Priesterkutte. In der Schlange vor dem Einstieg ins Flugzeug Richtung Jekaterinburg ist nicht zu überhören, wohin die Reise geht – zu den Zarentagen. Auf dem Programm stehen viele Gottesdienste, aber auch Konzerte und Vorlesungen, beispielsweise unter dem Motto »Ehrenkodex eines russischen Offiziers« oder »Die Heldentat der Zarenfamilie und die Heiligkeit der russischen Staatsmacht«.
Dieser Tage sind in der Ural-Metropole nahe den großen Kathedralen überall schwarz gekleidete Eminenzen unterwegs, umringt von Menschen jeden Alters. Ihr Auftreten wirkt volksnah, was nicht zuletzt der unauffälligen Security geschuldet ist. Nicht nur Eingeweihte tummeln sich an den Veranstaltungsorten, auch neugierige Passanten be­obachten die Szenerie.

»Wer ist denn der da?« Ein älterer Mann mit schwieligen Händen in Arbeitskleidung zeigt auf einen der orthodoxen Popen. »Der Metropolit von Jekaterinburg«, antwortet ein alternativ gekleideter Mützenträger etwa Mitte 50. Was es mit dem unkonventionellen Kreuz eines anderen Kuttenträgers auf sich habe, will der Fragesteller wissen. Das Kreuz ist aus der Entfernung kaum zu erkennen, aber der ebenfalls nur zufällig vorbeigelaufene Mützenträger erweist sich ohnehin als unkundig. »Ist ja auch egal, Gott sei mit ihnen«, sagt der Arbeiter mit einem Anflug von Ironie in der Stimme und zieht weiter.

Frau mit Ikonenbild

Andächtiges Beten und Informieren. Ob stehend oder sitzend, die meisten Teilnehmenden hören den Popen aufmerksam zu oder informieren sich über »Die Heldentat der Zarenfamilie und die Heiligkeit der russischen Staatsmacht«

Bild:
Katja Woronina

Die meisten Popen haben sich mittlerweile vor einem Militärorchester platziert, Zuschauer blicken andächtig in ihre Richtung. Bevor es mit der Musik losgeht, hält einer von ihnen eine Ansprache. In einem Nebensatz ist darin die Rede von einem »Brand im Südwesten Russlands«; damit ist das Thema Krieg in der Ukraine dann auch schon erledigt. Die Würdenträger und ihre Anhängerschaft treibt nicht der gegenwärtige Krieg um, sondern die revolutionäre Wirkung eines über 100 Jahre zurückliegenden.

Vor 105 Jahren, in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918, fiel der Entschluss, die Zarenfamilie umgehend zu erschießen. Ursprünglich war ein Prozess geplant gewesen, doch der Sowjet des Ural hatte Ende Juni die Hinrichtung angeordnet, dies hatte die bolschewistische Führung in Moskau Anfang Juli bestätigt. Der Termin wurde durch die militärische Lage bestimmt, auf keinen Fall wollte man eine Befreiung durch die vorrückenden Truppen der Weißen Armee riskieren.

Sichtlich bewegt stehen Gläubige auch hinter der Bühne. Einige ältere Frauen haben eine Fahne mit Zarenkonterfei auf ein Absperrgitter drapiert und sich dahinter auf die Knie geworfen.

Es stand zu diesem Zeitpunkt nicht gut um die Stellungen der Bolschewiki. Nur eine Woche später, am 25. Juli, wurde Jekaterinburg von der Weißen Armee eingenommen. Unter der Leitung von Jakow Jurowskij kam der Hinrichtungsbefehl umgehend zur Ausführung. Doch was zügig über die Bühne gehen sollte, zog sich im engen Kellerraum des in den siebziger Jahren abgerissenen Ipa­tjew-Hauses in die Länge. Zar Nikolaj war sofort tot, seine Töchter hingegen trugen unter ihren Korsagen Unmengen an Brillanten, die sich im Zuge der Exekution als regelrechte Panzerwesten entpuppten, die vor den Kugeln des Erschießungskommandos schützten. Jurowskij, dessen Aufzeichnungen erhalten blieben, schrieb, er sei letztlich gezwungen gewesen, alle Familienmitglieder nach und nach selbst zu erschießen.

Seit 1989 finden sich orthodoxe Gläubige alljährlich an jener Ecke der heutigen Karl-Liebknecht- und Clara-Zetkin-Straße zum Gebet ein, an dem seinerzeit das eigens zur Unterbringung der Zarenfamilie beschlagnahmte Ipatjew-Haus gestanden hatte. Zum Massenspektakel entwickelte sich die Veranstaltung jedoch erst vor wenigen Jahren.

Auf dem weitläufigen Gelände unterhalb einer hoch aufragenden Kirche tummeln sich nach Mitternacht Tausende Menschen. Hochrangige Geist­liche predigen auf einer Bühne, an deren Rand hebt ein Chor immer wieder zum Gesang an. Rund um die Bühne herrscht dichtes Gedränge. Ein Stück weiter zerstreut sich die Menge. Nicht wenige liegen im Gras und ruhen sich aus, manche scheinen sogar zu schlafen. Etwas abseits steht ein kleines Zeltlager mit einem Lagerfeuer, auf dem ein Kessel dampft.

Fahne mit Zarenkonterfei

Fahne mit Zarenkonterfei

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Katja Woronina

Sichtlich bewegt, mit ernstem Gesichtsausdruck und sich im rechten Augenblick bekreuzigend, stehen Gläubige auch hinter der Bühne, die Kirche im Rücken. Einige ältere Frauen haben eine Fahne mit Zarenkonterfei auf ein Absperrgitter drapiert und sich dahinter auf die Knie geworfen. Zum Gespräch lädt das Ambiente nicht ein, nur einige als Wachschutz abgestellte junge Polizisten unterhalten sich lebhaft. Ihre mit vulgären Ausdrücken gespickte, umgangssprachliche Wortwahl verpasst der klerikalen Gesamtinszenierung einen fast erfrischend weltlichen Anstrich.

Weit irritierender sind die Glückwünsche, die eine Frau mit Kopftuch unvermittelt im Vorbeigehen ausspricht: »Einen frohen Festtag!« Wollte sie damit lediglich ein Almosen ergattern? Kurz darauf wiederholt sich die Szene. Was gibt es zu feiern? Eigentlich nichts – außer vielleicht irgendeinem obskuren Gemeinschaftsgefühl, weil sich Menschen auf einer in Zeiten umfassender Verbote selten gewordenen Massenversammlung aus eigenem Antrieb treffen.

Insgesamt scheinen die Anwesenden allerdings ein recht individuelles Verständnis von ihrer eigenen Rolle an einem so denkwürdigen Jahrestag zu pflegen. Neben einer zur Kirche führenden Treppe stehen Priester zur Beichtabnahme. »Wann haben Sie das letzte Mal gebeichtet?« fragt einer von ihnen. Eine Frau mittleren Alters antwortet, das sei etwa zwei Jahre her. Warum sie denn ausgerechnet heute beichten wolle? »Weil heute doch ein Festtag ist«, ist ihre prompte Replik.

Der orthodoxe Fernsehsender SPAS hat eine Liveübertragung geschaltet. Schon über zwei Stunden dauert die Veranstaltung. Ein hochrangiger Priester in glänzendem Gewand beklagt derweil auf der Bühne die mangelnde Glaubensfestigkeit in der russischen Bevölkerung. Wie zur Bestätigung seiner Behauptung steht ein Mann im ­sowjetnostalgischen Trainingsanzug am Rand der Menge, die Aufschrift »CCCP« auf seinem Rücken ist ein echter Hingucker.

Jahrzehntelang weigerte sich die Kirchenführung vehement, die Ergebnisse umfangreicher wissenschaftlicher Untersuchungen anzuerkennen. Damit dürfte sie einem nicht unwesentlichen Teil religiöser Zarenanhänger entgegengekommen sein, die nichts von modernen DNA-Analysen halten.

Politisch geschulte Zarenanhänger haben am gegenüberliegenden Ende Stellung bezogen. Unter ihnen sind Angehörige der Gesellschaft Zargrad, benannt nach dem gleichnamigen Fernsehsender des stramm rechten Multimillionärs Konstantin Malofejew. Niemand skandiert hier Parolen. Doch schon das Meer an kaiserlichen Fahnen in Schwarz, Gelb und Weiß sowie gelben Fahnen mit Doppelkopfadler und der Aufschrift Zargrad erinnert unweigerlich an die Atmosphäre eines sogenannten Russischen Marschs: Bis vor wenigen Jahren demonstrierte eine breite Palette von Vertretern der ex­tremen Rechten unter diesem Motto in Moskau und anderen Städten.

Drei Frauen

Andächtiges Beten und Informieren. Ob stehend oder sitzend, die meisten Teilnehmenden hören den Popen aufmerksam zu oder informieren sich über »Die Heldentat der Zarenfamilie und die Heiligkeit der russischen Staatsmacht«

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Katja Woronina

Sie stehen schon bereit für die Kreuzprozession, die im Anschluss an den Gottesdienst zur Ganina Jama führen soll. Der Name bedeutet auf Deutsch »Ganjas Grube«, und diese liegt rund 15 Kilometer außerhalb der Stadt in einem Waldstück. Dort ließ die russisch-orthodoxe Kirche ein Kloster errichten, in dem der letzte Zar als Heiliger verehrt wird. Es dient den Monarchisten als Pilgerstätte, obwohl die Bolschewisten die Überreste der Romanows, um eine Entdeckung zu vermeiden, einige Kilometer entfernt verbrannten und verscharrten.

Jahrzehntelang weigerte sich die Kirchenführung vehement, die Ergebnisse umfangreicher wissenschaftlicher Untersuchungen anzuerkennen. Damit dürfte sie einem nicht unwesentlichen Teil religiöser Zarenanhänger entgegengekommen sein, die nichts von modernen DNA-Analysen halten und dem Glauben anhängen, die Bolschewiki hätten die Gebeine der Zarenfamilie in der Ganina Jama mit Schwefelsäure komplett »vernichtet«, wie es heißt.

Im Frühjahr 2022 rang sich die Kirche dann doch zu der Erkenntnis durch, dass die Beweise für eine Identifizierung der erst 1998 in Sankt Petersburg beigesetzten Gebeine ausreichen. Für einen offiziellen Wechsel der Lehrmeinung müsste allerdings ein interna­tional besetztes Konzil einberufen werden – damit will die Kirche aber lieber warten, bis der Krieg vorbei ist.