Bewegung, Denken und andere Unzumutbarkeiten

Turnübungen fürs Gehirn

Der Dokumentarfilm »Mind Games« möchte beweisen, dass Sport kognitive Leistungen fördert. Eine seriöse Studie aber zeigt er nicht.

Wer wissen will, was von »Mind Games – The Experiment« zu halten sei, dem reichen wahrscheinlich die ersten fünf Minuten. Da sitzt ein recht vermarktungsaffiner Wissenschaftler namens Brendon Stubbs, der sich in sozialen Medien als einer von den »top ein Prozent zitierten Wissenschaftlern weltweit mit über 700 akademischen Veröffentlichungen« anpreist, vor der Kamera und verkündet über seine eigene Forschung: »Das ist echt bahnbrechende Recherche.« Wer traut sich, da zu widersprechen?

Unabhängige Einschätzungen gibt es nicht. Dafür aufmunternde Musik, überglückliche Testpersonen und einen Erzähler, der die »große Wirkung« sportlicher Übungen anpreist. Willkommen zu Wissenschaft à la Amazon Prime. Die dort gestreamte Dokumentation »Mind Games« ­präsentiert als Sportstudie getarnte Workout-Propaganda mit ganzen vier Probanden und Probandinnen und viel Herzschmerz (kann der Proband wieder eine Beziehung zu seinen Kindern aufbauen?). Wer über das manipulative und simplifizierende Getöse des Films hinweg­sehen kann, wird bei »Mind Games« immerhin leidlich gut unterhalten. Und ja, natürlich wird am Ende alles gut mit den Kindern.

Zahlreiche Studien haben längst nachgewiesen, dass Sporttreiben das psychische Wohlbefinden erhöht und Glück sowie innere Ruhe fördert, Stress reduziert und auch direkt auf die kognitive Leistung wirkt.

Was will er nun überhaupt beweisen, der Brendon Stubbs? Er beschäftigt sich mit der Beziehung von Körper und Geist und will nachweisen, dass körperliche Bewegung auch den Geist stimuliert. Das ist nun keine so revolutionäre These. Zahlreiche Studien haben längst nachgewiesen, dass Sporttreiben das psychische Wohlbefinden erhöht und Glück sowie innere Ruhe fördert, Stress reduziert und auch direkt auf die kognitive Leistung wirkt, indem es etwa die Konzentra­tionsleistung verbessert und das Erinnerungsvermögen erhöht.

Amazon freilich tut, als würde hier gerade die Elektrizität entdeckt. »Mind Games« hat dafür vier Menschen aus dem Bereich Denksport ausgewählt – einen E-Schachspieler, eine Gamerin, einen Mahjong-Spieler und einen Gedächtnissportler – und lässt sie vier Monate lang ein Sportprogramm ausführen. Alle benennen anfangs ganz leistungsorientiert einen denksportlichen Triumph, der nun erreicht werden soll. Und wenn die Medaille errungen ist, ist der Beweis erbracht. Logisch, oder?

Was wurde überhuapt gemessen?
Besonders apart an dieser abstrusen Beweisführung ist, dass ein Protagonist vorher über Jahrzehnte gar nicht an Wettbewerben teilgenommen hat, ein anderer jahrelang pausierte. So was nennt man wohl einen Vorher-nachher-Vergleich.

Zusätzlich zu diesem Humbug wird auch eine halbwegs seriöse, größere Studie vorgestellt. An ihr haben dem Film zufolge 77 Denksportler- und -sportlerinnen aus 21 Ländern teilgenommen, es ging um messbare Einflüsse von Sport aufs Gehirn. Die Studie bildet den Hintergrund, vor dem die vier Hauptpersonen agieren.

Am Ende des Ganzen werden triumphal Zahlen heruntergerattert: Da hat eine Protagonistin innerhalb von vier Monaten ein um 20 Prozent verbessertes Kurzzeitgedächtnis und um 50 Prozent weniger Ängste, der nächste Protagonist konnte seine Gedächtnisleistung um 40 Prozent steigern, der dritte löst Aufgaben um 30 Prozent besser und so fort.

Nur hält »Mind Games« es nicht für wert, der Zuschauerschaft transparent zu machen, was da überhaupt wie gemessen wurde. Abgesehen vom mathematischen Rätsel Hanoi-Turm (das sich nicht für einen Vergleich eignet, weil man beim zweiten Mal weiß, wie es geht) wird kein einziger Versuch beschrieben. Gerade bei berüchtigt schwer messbaren Größen wie Problemlösungskompetenz wäre Transparenz schon angebracht gewesen.

»Mind Games« ist offensichtliche Manipulation
Unbeantwortet bleibt auch, wie die anderen 77 Probanden und Probandinnen überhaupt ausgewählt wurden; welches Geschlecht, Milieu, Land, Alter und so fort. Und dass die Sportler und Sportlerinnen bei der Selbsteinschätzung in den Fragebögen bewusst oder unbewusst gemäß den Erwartungen antworten könnten, zumal sie überwiegend von Anfang an überzeugt von der Wirkung sind, ist Achtklässlerwissen. Kurz: »Mind Games« ist offensichtliche Manipulation. Und man wird das Gefühl nicht los, dass hier die Gutgläubigkeit des Publikums ausgenutzt werden soll.

Abgesehen davon, wie ärgerlich diese Filmdokumentation ist, unterhält sie immerhin leidlich. Vor allem, weil das Quartett gut gecastet ist. Da ist der sympathische afroamerikanische Schachspieler Kassa Korley, ein Internationaler Meister, der Großmeister und zum Vorbild für andere Schwarze im Schach werden will. Da ist die fleißige »Street Fighter«-Gamerin Sherry Nhan, eine der erfolgreichsten Frauen in ihrem Metier, die es auf die große Bühne des Evo-Turniers schaffen – einem der wichtigsten Turniere für Computerspiele – und andere Frauen bestärken möchte.

Der Plot folgt den typischen Regeln, wie man sie von vergleichbaren RTL-Produktionen kennt.

Der schrullige britische Gedächtnissportler Ben Pridmore ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet und möchte bei der Gedächtnisolympiade erneut aufs Podium und es den jungen Hüpfern zeigen. Und der ehemalige Mahjong-Profi Ryoei Hirano aus ­Japan will nach dreijähriger Auszeit zeigen, dass er eine WM-Teilnahme mit dem Dasein als Familienvater vereinbaren kann.

Alles nette Menschen, denen man von Herzen wünscht, dass ihr Traum in Erfüllung gehen möge. An Diversität wurde auch gedacht, gelegentlich fast bizarr auf die Spitze getrieben: Die asiatischstämmige Frau bekommt eine asiatischstämmige Frau als persönlichen Trainer zugewiesen, der Schwarze einen Schwarzen und so fort.

Viel zu nett für Spitzenschach
Der Plot von »Mind Games« folgt im Wesentlichen den typischen Regeln, wie man sie von vergleichbaren RTL-Produktionen kennt: Man begleitet die vier Hauptfiguren in regelmäßigen Abständen durch Freud und Leid. Die meisten Sympathiepunkte sammelt Schachspieler Korley, der wohl einfach viel zu nett für Spitzenschach ist. Ständig hat er die Gegner am Rand der Niederlage und dann fangen die an, Psychospielchen zu spielen.

Einer steht mitten im Spiel auf und verlässt den Platz, einer kommt gar gleich viel zu spät zur Partie. Und einer erklärt nachher grinsend, er wisse, dass Korley »ein Pro­blem mit Nervosität hat«. Ständig kriegt Korley in letzter Minute das Flattern, um sich dann über sich selbst zu ärgern. Am Ende hat er es denn auch nicht zum Großmeister geschafft, aber immerhin einen Großmeister geschlagen – woraus die Doku sich das gewünschte Happy End zusammenbastelt.

Abgesehen davon, wie ärgerlich diese Film­dokumentation ist, unterhält sie immerhin leidlich.

Auffällig ist auch hier, wie »Mind Games« Fakten unterschlägt. Kassa Korley wird als Schachspieler aus New York vorgestellt, aber nicht erwähnt, dass er seit fast zehn Jahren für Dänemark antritt, obwohl die Doku ihn bei einem Turnier in Kopenhagen zeigt. Eine in dem Fall völlig unverständliche Auslassung.

Während Korley als netter Typ von nebenan zur Identifikation einlädt, ist die größte Attraktion ein anderer: der schräge Gedächtnissportler Ben Pridmore. Ein Nerd aus dem Bilderbuch, der bisher nach dem Motto »Sport ist Mord lebte«, mit seinem IQ von 159 prahlt und sich als Einziger rein gar nichts von diesem Experiment erwartet. Es sind Pridmores trockene Sprüche und seine Haltung irgendwo zwischen stubenhockender Schüchternheit und tapsiger Angeberei, die »Mind Games« unterhaltsam machen.

Mulmiges Gefühl
Wo alle anderen Hauptpersonen strebsam hüpfen und radeln, betont Pridmore störrisch, dass seine besten Gedächtnisleistungen dank McDonald’s und Burger King zustande gekommen seien. Und am Walking gefällt ihm vor allem, dass er nachher in der App die Zahlen analysieren kann. Aber ach, wie das so ist in solchen Dokus, am Ende ist der widerspenstige Pridmore der überzeugteste Jünger von allen geworden. So einen braucht’s.

All das kann man »Mind Games« zunächst mal schwerlich vorwerfen. Dass Sporttreiben das Wohlbefinden und die Hirnleistung verbessert, ist halt schon richtig, und auch an der gezeigten Begeisterung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen über einzelne Effekte dürfte etwas dran sein. Und überhaupt, es gibt bekanntlich Schlimmeres, als ein Filmpublikum mit simplifizierten Argumenten zum Sporttreiben zu animieren.

Ein mulmiges Gefühl hinterlässt all das trotzdem. Im Internet finden sich vor allem begeisterte Rezensionen, die die eindrucksvollen Ergebnisse herausstellen. Wer für die Doku mit diesen nur bei unkritischem Blick eindrucksvollen Ergebnissen gezahlt hat? Asics, einer der weltweit größten Hersteller von Sportkleidung. Dessen Motto lautet: Anima sana in corpore sano – eine gesunde Seele wohnt in einem gesunden Körper. Nun ja.

 

Mind Games

Mind Games – The Experiment (Groß­britannien 2023). Dokumentarfilm von Ben Addelman und Matt Hill. Läuft bei Amazon Prime