Bosnien-Herzegowina hat eine neue Regierung, aber die bekannten Probleme

Schmidts Scherbenhaufen

Die Regierungsbildung in Bosnien-Herzegowina ist vier Monate nach der Wahl geglückt, für dortige Verhältnisse in Rekordzeit. Der Einfluss des Hohen Repräsentanten Christian Schmidt begünstigt indes den Ethnoseparatismus im Land.

Bosnien-Herzegowina hat eine neue Regierung. Am 25. Januar trat Borjana Krišto, die stellvertretende Vorsitzende der Kroatischen Demokratischen Union Bosnien-Herzegowinas (HDZ), ihr Amt als erste Vorsitzende des Ministerrats und damit Regierungschefin des Lands an. Gleichzeitig bestätigte das Parlament, das aus zwei Kammern besteht, dem Abgeordnetenhaus und dem Haus der Völker, den aus einer weiteren Frau und acht Männern bestehenden Ministerrat im Amt. Das so gebildete Kabinett wird von einer Koa­lition aus der HDZ, der serbischen Allianz Unabhängiger Sozialdemokraten (SNSD) und einem Bündnis von sechs kleineren Parteien unter Führung der bosnischen Sozialdemokratischen Partei (SDP) getragen.

Diese Regierungsbildung fand für bosnische Verhältnisse in Rekordzeit statt: Seit den Parlamentswahlen am 2. Oktober 2022 waren keine vier Monate vergangen. Nach den Wahlen 2010 und 2018 hatte es jeweils über ein Jahr, 2014 fast sechs Monate gedauert, bis eine Regierung zustande kam. Die Schwierigkeiten sind in der politischen Struktur Bosnien-Herzegowinas angelegt, die als das komplizierteste Regierungssystem der Welt gilt.

Bei den Jüngeren wachsen die Ablehnung des Dayton-Systems und die Zustimmung für Parteien, die nicht ethnonationalistisch strukturiert sind. Proteste gegen die ethnische Segregation häufen sich.

In den achtziger Jahren brach die ökonomische Grundlage des jugoslawischen Ethnoföderalismus zusammen: Der Schuldendienst in Devisen konnte durch die immer weniger konkurrenzfähige Industrie des Lands nicht mehr erbracht werden, Hyperinflation und Verarmung waren die Folge. In den resultierenden Auseinandersetzungen um Macht und Ressourcen wurde ethnische Zugehörigkeit zur zentralen Legitimationsquelle neu entstehender politischer Gruppierungen. Mit der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens 1991 gingen die Konflikte in ­offene militärische Auseinandersetzungen über.

Diese waren am heftigsten in der ehemaligen bosnischen Teilrepublik Jugoslawiens, deren multiethnischer Charakter besonders ausgeprägt war. Serbische, kroatische und bosniakische Einheiten kämpften hier gegeneinander. Mit schätzungsweise 100 000 Toten und Vermissten war der drei Jahre ­andauernde Bosnien-Krieg (1992–1995) der blutigste der jugoslawischen Zerfallskriege. Er wurde im Dezember 1995 durch das von den USA vermittelte Abkommen von Dayton beendet. Der Interpretation des Kriegs als einer ethnischen Auseinandersetzung und den realen, während der Kämpfe entstandenen Machtverhältnissen folgend, wurde das Land in Form einer ethnisch strukturierten föderalen Konkordanzdemokratie unter Serben, Kroaten und Bosniaken aufgeteilt.

Gemäß dem Daytoner Abkommen werden diese drei Ethnien als die kon­sti­tutiven Bevölkerungsgruppen Bosnien-Herzegowinas angesehen, die in sämtlichen Staatsorganen repräsentiert sein müssen. Am anschaulichsten schlägt sich das in der Art der Staatsführung nieder. Statt dass es einen Staatspräsidenten gäbe, teilen sich je ein Vertreter von Bosniaken, Serben und Kroaten das Amt. Auch das Schulsystem ist ethnisch segregiert, Kinder werden nach Religion und Ethnie getrennt unterrichtet. Zusätzlich ist das Land in zwei föderale Entitäten getrennt, die Republika Srpska und die in zehn Kantone unterteilte Föderation Bosnien und Herzegowina der Bosniaken und Kroaten. Beide Entitäten unterhalten jeweils eigene Parlamente und Regierungen. Hinzu kommt als Sonderverwaltungsgebiet der Brčko-Distrikt.

Die Teilung entlang ethnischer Trennlinien konservierte die Macht der für den blutigen Konflikt Verantwortlichen, der nationalistischen Parteien aller drei Ethnien, der bosnischen Partei der Demokratischen Aktion (SDA), der kroatischen HDZ und der Serbischen Demokratischen Partei (SDS), später der Allianz der Unab­hängigen Sozialdemokraten (SNSD). Deren Machtbasis liegt in der Kontrolle staatlicher Ämter und Ressourcen und deren Ausbeutung in Form klientelistischer Netzwerke. Um ein Wiederaufflammen der Auseinandersetzungen zu verhindern, wurde 1995 durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrats das Amt des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina geschaffen. Dieser verfügt über weitgehende legislative und exekutive Befugnisse und kann selbständig ­Gesetze erlassen oder außer Kraft setzen und gewählte Politiker:innen absetzen. Seit August 2021 hat dieses Amt der ehemalige deutsche Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) inne.

Schmidt trat sein Amt in einem Moment an, als das politische System Bosnien-Herzegowinas in seine tiefste Krise seit dem Krieg rutschte, die sowohl innen- wie außenpolitische Ursachen hat. Das Land ist fast 30 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs durch Armut gekennzeichnet, Tausende verlassen deswegen Bosnien jedes Jahr. Bei den Jüngeren wachsen die Ablehnung des Dayton-Systems und die Zustimmung für Parteien, die nicht ethnonationalistisch strukturiert sind. Pro­teste gegen die ethnische Segregation häufen sich.

Brisant ist auch die außenpolitische Lage. Auf dem Balkan überschneiden sich Interessensphären der EU, Russlands, der USA und mittlerweile auch Chinas. Im Rahmen der sich verschärfenden internationalen Konflikte versuchen lokale Akteure, daraus Profit zu schlagen. Dies führt zu immer aggressiveren Bemühungen der nationalistischen Parteien, ihre Macht zu sichern. So drohte Milorad Dodik, der prorussisch eingestellte Präsident der Republika Srpska, Ende 2021 mit einer Abspaltung der Republik.

Währenddessen blockierte die HDZ politische Entscheidungen in der bosniakisch-kroatischen Föderation und strebte die Errichtung einer eigenen kroatischen Entität an. Zudem verlangte die HDZ vor den Wahlen 2022 eine Wahlrechtsreform, die sichern soll, dass die politische Vertretung des kroatischen Bevölkerungsteils in den Händen nationalistischer Politiker:innen verbleibt und nicht von moderaten Kräften wahrgenommen wird. Schmidt versuchte, diese Blockade durch den Entwurf eines Wahlgesetzes aufzulösen, den jedoch bosnische und ausländische Beobachtern als diskriminierend für Angehörige kleinerer Ethnien, vor allem für Roma und Juden, und als Zugeständnis an die Forderungen der HDZ wahrnahmen.

Aufgrund breiter Proteste zog Schmidt dieses Vorhaben zurück, verkündete dann jedoch unter Rückgriff auf seine umfassenden Befugnisse am Wahlabend des 2. Oktober eine Änderung des Wahlgesetzes, die auch die Sitzverteilung im Ergebnis der gerade durchgeführten Abstimmung betraf. Er erhöhte die Anzahl der Delegierten, die als Vertreter von Serben, Bosniaken und Kroaten in die zweite Parlamentskammer der Föderation entsandt werden, was zugunsten der Mandate für die großen ethnonationalistischen Parteien geht. Zwar muss weiterhin aus jedem Kanton mindestens ein Vertreter jeder der drei Volksgruppen ins Parlament entsandt werden. Die Erhöhung der Delegiertenzahl führt aber dazu, dass Kantone, in denen eine der Gruppen stark vertreten ist, im Parlament stärker vertreten sind. Solche Kantone wählen tendenziell eher nationalistisch. Die Änderung war gegenüber dem ersten Vorschlag deutlich abgemildert, wurde aber immer noch als Parteinahme zu Gunsten der HDZ, die auf europäischer Ebene mit der CSU verbunden ist, wahrgenommen. Kritik am Agieren Schmidts speist sich auch daraus, dass dieser an Kolonialbeamte erinnernde Manieren an den Tag legt und einheimische Kritiker:innen gerne vor laufender Kamera lautstark abkanzelt.

Nicht nur im Land steigt die Unzufriedenheit mit Schmidt. Im Dezember 2022 wurde Bosnien und Herzegowina in den Kreis der EU-Kandidatenländer aufgenommen. Diese Entscheidung ist maßgeblich durch den Ukraine-Krieg motiviert und hat zum Ziel, an der EU orientierte Kräfte im Land zu stärken und dieses stärker an die EU zu binden. Ein Politiker, der auch die Europäische Volkspartei repräsentiert, sich aber vor Ort wie die Axt im Walde aufführt und sich der einseitigen Parteinahme zugunsten einer der ehemaligen Bürgerkriegsparteien verdächtig macht, konterkariert dieses Anliegen. Ende Januar wurde Schmidt deswegen zum Rapport vor dem Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments nach Brüssel bestellt. Nach der nichtöffentlichen Anhörung konstatierte Tineke Strik, ein niederländisches Mitglied der Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz im Europaparlament, sie habe nicht den Eindruck gehabt, dass Schmidt die Gründe für die an ihm geübten Kritik verstanden hätte.

Diesen Eindruck teilen offensichtlich auch andere. Einem Bericht des Spiegels vom 10. Februar zufolge forderte eine Gruppe ehemaliger Diplomatinnen und Balkan-Experten in einem Brief an den Außenausschuss des Bundestags, Schmidt von seiner Aufgabe zu entbinden, da er dem Friedensprozess in Bosnien und dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland »nachhaltigen Schaden« zufüge. Die Entscheidungen Schmidts überprüft derzeit auch das bosnische Verfassungsgericht. Höchstwahrscheinlich sind seine Tage auf diesem Posten gezählt. Die grundsätzlichen Probleme der bosnischen Bevölkerung jedoch, die grassierende Armut und ein politisches System, dass die Macht radikaler Nationalisten stützt, werden durch eine Ablösung Schmidts nicht gelöst.