Das Debütalbum von Mellie aus Leipzig

Pandemie im Proberaum

Statt auf Tour zu gehen, hat die Leipziger Band Mellie während der Covid-19-Pandemie ihr Debütalbum aufgenommen. Das Ergebnis mit dem Titel »I Have Ideas, Too« klingt nach britischem Post-Rock der Neunziger und verzichtet dabei auf aufgesetzte Retrosounds.

Zeit zu haben, ist gut. Das gilt natürlich erst einmal ganz allgemein, doch besonders gilt es dann, wenn man als junge Band im Begriff ist, sein Debütalbum aufzunehmen. Denn im Zuge dessen spielt sich etwas ab, das man etwas überkandidelt Identitäts- oder Selbstfindung nennen könnte.

Mellie hatten in den vergangenen zweieinhalb Jahren viel Zeit – mehr, als dem Trio eigentlich lieb war. Nachdem die Gitarristin und Sängerin ­Julia Boehme (ehemals Fun Fare), der Sänger und Bassist Marius Huber (Amore Enterprise) und der Drummer Alexander Günther (Molde, Go Lamborghini Go) im Jahr 2019 in Leipzig zusammengefunden hatte, wollten sie nach dem Erscheinen der ersten EP »Have Head« im Mai 2020 ausgiebig live spielen. Konzerte in Tschechien, Polen und Frankreich waren bereits geplant. Doch die meisten davon fielen der Covid-19-Pandemie und dem Lockdown zum Opfer. Boehme, die die Tour alleine, also ohne externe Agentur geplant hatte, hat diese Zeit als »fast schon traumatisierend« in Erinnerung, wie sie der Jungle World im Gespräch erzählt.

Wirkte »Have Head« mit seiner nicht zuletzt dem Live-Charakter geschuldeten Unmittelbarkeit noch wie eine stoische, enggefasste Platte, kommt »I Have Ideas, Too« im Vergleich dazu geradezu schwebend daher.

Wer selbst schon mal als Booker gearbeitet hat, weiß, warum: Gerade bei jungen Bands, die noch keine Reputation haben, läuft das Booking anfangs nur schleppend. Viele Ver­anstalter sind nicht zuletzt wegen rückläufiger Zuschauerzahlen sehr zurückhaltend bei Bands ohne eta­blierte Fanbase. Dass die in Dutzenden Stunden nervenaufreibender Arbeit zusammengebastelte Tournee wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel, war dementsprechend frustrierend.

Statt in ihrem viel zu kleinen Bandauto zu dritt samt Equipment durch Europa zu fahren, verbrachten Mellie viel Zeit in ihrem Proberaum, um an neuen Songs zu arbeiten. Das vor kurzem erschienene Debütalbum »I Have Ideas, Too« ist das Resultat dieser Arbeit. Tatsächlich erweckt das Album – gerade im Kontrast zu der Debüt-EP – den Eindruck einer enormen Weitläufigkeit und Experimentierfreude. Wirkte »Have Head« mit seiner nicht zuletzt dem Live-Charakter geschuldeten Unmittelbarkeit noch wie eine stoische, enggefasste Platte, für die aus der Selbstlimitierung Kreativität geschöpft wurde, kommt »I Have Ideas, Too« im Vergleich dazu geradezu schwebend daher. Ganz bewusst hat die Band dieses Mal viel mit Overdubs gearbeitet; so sind neben zahlreichen Synthesizerflächen und Harmoniegesängen beispielsweise auch Genre-untypische Instrumente wie eine Trompete, ein Cello oder gar eine Blockflöte zu hören.

Ein Song wie das starke »Trap« kann exemplarisch für die Entwicklung der Band stehen: Erweckt der Beginn des Songs mit seiner ebenso dezenten wie klassischen Instrumentierung – Gitarre, Bass, Schlagzeug und Gesang sind zunächst zu hören – noch Assoziationen zum Sound von »Have Head«, steigert sich der Song zu einem komplexen und vielschichtigen Sound-Gefüge, das Erinnerungen an Musiker wie die britische Post-Rock-Band Pram oder PJ Harvey wach werden lässt, nur um am Ende wieder zum Eingangsmotiv zurückzukehren. Bei allen Reminiszenzen an Acts vergangener Zeiten verwahren sich Mellie aber stets ­einem Retrosound, der aufgesetzt und verwaschen klingt und damit den Produktionsstandard der Gegenwart leugnen würde. Im Gegenteil fällt der Sound der Band stets sehr klar aus.

Dem Drummer Alexander Günther zufolge war die veränderte, stärker an Overdubs orientierte Arbeitsweise bei der Produktion von »I Have Ideas, Too« von vornherein so geplant: Ging es bei »Have Head« noch darum, alle Songs ohne weitere Experimente möglichst fehlerfrei aufzunehmen – sowohl Boehme als auch Günther hatten erst kurz zuvor angefangen, Gitarre beziehungsweise Schlagzeug zu spielen, woraus zu Beginn eine gewisse Unsicherheit mit den Instrumenten resultierte –, kristallisierte sich nun bereits beim Songwriting heraus, dass es in eine andere, weitläufigere und komplexere Richtung gehen würde. Ohnehin ist Günther gegenwärtig etwas übersättigt vom Do-it-yourself-geprägten Indie, dem zufolge alles immer möglichst live und unmittelbar, roh und authentisch zu klingen hat, so dass ihm eine davon abweichende Arbeitsweise nahelag.

Er selbst betreibt das Studio Tutti, ein kleines Tonstudio im Südosten Leipzigs, das ihm in den vergangenen Jahren in der lokalen Musikszene bereits einen Ruf als örtlicher Steve Albini einbrachte. Gleichzeitig dient das Studio der Band auch als Proberaum, was im Vergleich zu den meisten anderen Bands bei den Aufnahmen eine weitaus entspanntere ­Arbeitsatmosphäre mit sich bringt. Dadurch sparen sich Mellie auch die Studiokosten, die heutzutage im prekären Indie-Bereich zumeist von den Bands selbst getragen werden und bei einem ganzen Album je nach ökonomischer Ausgangslage schnell an die finanzielle Substanz gehen können.

Darüber hinaus bietet die Zusammenlegung von Proberaum und Studio für die Band auch den unschätzbaren Vorteil, den Aufnahmeprozess zeitlich strecken zu können, was es ermöglicht, verschiedene musikalische Pfade auszuprobieren, neu zu navigieren, nach links und rechts zu schauen, sich treiben zu lassen, aber auch bestimmte musikalische Unterfangen abzubrechen, wenn sich das Gefühl einstellt, sich verlaufen zu haben. »I Have Ideas, Too« hört man diese Entspanntheit, diese fast schon anachronistische Aufhebung jeglicher Rastlosigkeit zu jedem Zeitpunkt an. Zugleich aber vermengt sich die entspannte Grundatmosphäre mit einem ausgeprägten Faible für Akribie, sei es bei der Suche nach dem richtigen Sound oder bei der nach der richtigen Harmonie.

Dass Wege nicht immer geradlinig verlaufen, zeigt sich indes auch in Bezug auf das Personalgefüge: Der Bassist Marius Huber wird aus beruflichen Gründen Leipzig – und damit auch Mellie – zumindest übergangsweise verlassen. Zur Band hinzustoßen wird dafür Maxim Tschernych von der Band Parking Lot. Doch hält sich die Band eine spätere Rückkehr Hubers bewusst offen, zumal der komplexer gewordene Sound langfristig eine zusätzliche Person für die Live-Umsetzung nahelegt, so dass Mellie zukünftig zu einem Quartett heranwachsen könnten. Ohnehin ist Huber nicht zuletzt durch seine im Vergleich zu »Have Head« deutlich ausgebauten Gesangsanteile zu einem wichtigen Faktor des Mellie-Sounds geworden, er ist somit nicht so leicht zu ersetzen.

Veröffentlicht wurde das Album vom Berliner Label Adagio830, bei dem bereits befreundete Bands wie Liiek oder Pigeon ihre Platten herausgebracht haben. Beim Labelbetreiber Robert Schulze musste nicht viel Überzeugungsarbeit geleistet werden: Zwei Tage nachdem die Band ihm das Album hatte zukommen lassen, lag die Zusage auf dem Tisch, die, wie Alexander Günther sich erinnert, auch noch überaus zugewandt und begeistert ausfiel. Was kaum überrascht: Denn »I Have Ideas, Too« ist inmitten einer weitläufigen und höchst produktiven Indie-Szene eine der stärksten Platten der letzten Zeit.

Mellie: I Have Ideas, Too (Adagio830)