Jens Balzers Buch »Ethik der Appropriation« ist erfrischend

Völkischer Holzweg

Der Kulturjournalist Jens Balzer versucht in seinem Buch »Ethik der Appropriation« nicht zuletzt zu begründen, was die Debatte über »kulturelle Aneignung« mit der Wiedergutwerdung der Deutschen zu tun hat.

Niemand muss Peter Fox mögen, aber so viel lässt sich doch anerkennen: Dancehall und Reggae mit deutschem Rap zu mischen – das ist regelrecht mutig in einem Land, dass am liebsten zu Helene Fischer und Rammstein schunkelt.

»Stadtaffe«, Peter Fox’ Solo-Debüt, gilt als das erfolgreichste deutschsprachige Album des Jahres 2009. 13 Jahre später veröffentlicht der Berliner Musiker, der mit bürgerlichem Namen Pierre Baigorry heißt, einen neuen Song, »Zukunft Pink«. Auch hier sind für deutsche Ohren ungewohnte Klänge zu hören: Der Song enthält Elemente des Amapiano (Zulu für »die Klaviere«), einer elektronischen Musikrichtung, die ihren Ursprung in Südafrika hat und nicht nur dort seit ein paar Jahren populär ist.

»Eine gute Appropriation ist jene, die erfinderisch ist; die das Spiel der kulturellen Möglichkeiten erweitert.« Jens Balzer

In 13 Jahren hat sich die Welt aber gehörig weitergedreht, und was einst als innovativ galt, halten einige nun nahezu für ein Verbrechen. »Peter Fox wird sich jetzt eine goldene Nase verdienen mit südafrikanischem Amapiano, während Schwarze Menschen in den Clubs, wo genau dieser Song rauf und runter gespielt wird, an der Tür abgewiesen werden. Love it«, twitterte der Journalist Malcolm Ohanwe. Ein harter Vorwurf: Bereichert sich Fox an einer anderen Kultur und ihren Rhythmen? Ist er mit seiner kulturell »unreinen« Musik womöglich sogar persönlich mitverantwortlich dafür, dass schwarze Menschen hierzulande systematisch diskriminiert werden?

Ohanwes Schwall mag hyper­empört gewesen sein, doch er ist mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung in guter Gesellschaft. So musste erst im Juli nach öffentlichem Druck ein Konzert der Zürcher Band Lauwarm abgesagt werden, weil einige der allesamt weißen Bandmitglieder nicht nur Reggae spielen, sondern auch noch Dreadlocks tragen.

So sehr mehren sich die Debatten, dass der Kulturjournalist Jens Balzer es für notwendig hielt, der Angelegenheit in einem Essay auf den Grund zu gehen. »Ethik der Appropriation« heißt das knapp 90seitige Büchlein, in dem der Publizist – ausgehend von seiner eigenen kindlichen Faszination für die Bücher von Karl May – der Frage nachgeht, ob es einen Unterschied zwischen guter und schlechter Appropriation, eben eine Ethik derselben, geben kann. In welche Richtung er argumentieren will, macht er bereits am Anfang deutlich: Ist nicht ein großer Teil der Kultur – vor allem der Popkultur von Rhythm and Blues über Rock ’n’ Roll bis Rap – auf Durchmischung und damit gewissermaßen Aneignung gewachsen? Würde eine Abkehr von diesem Prinzip nicht »zwangsläufig auf den Holzweg einer Identitätslogik« führen, »die letztlich in das Völkische mündet«, wie er schreibt?

Ja, das würde sie. Wenn deutsche Musiker nur bei deutscher Musik blieben, wäre dieses Land musikalisch wohl nie über den Militärmarsch und seine Artverwandten hinausgekommen. Nicht ohne Grund ist der Ethnopluralismus eine Idee, die insbesondere von der Neuen Rechten propagiert wird. Demnach sollten die »Völker« innerhalb ihrer jeweiligen Landesgrenzen unter sich bleiben und sich nicht vermischen. Kultur würde damit zu einem Schaufensterartefakt degradiert werden: Gucken ja, aber nicht anfassen – oder gar nachmachen! Balzer schreibt: »Wer Appropriation prinzipiell zu einem Vergehen erklärt, das es zu verbieten gilt, raubt letztlich der Kultur jede Beweglichkeit und jedes Leben.«

Es muss also komplexer gedacht werden. Der Richtig-falsch-Dichotomie der Theorie der kulturellen Aneignung hält der Autor eine wohltuende Differenzierung entgegen: »Eine gute Appropriation ist jene, die erfinderisch ist; die das Spiel der kulturellen Möglichkeiten erweitert.« Die schlechte Appropriation hingegen sei eine, »die scheinbar vorgegebene Identitäten hinnimmt und verfestigt, die bestehende Machtverhältnisse ästhetisch ausnutzt und damit politisch zementiert«.

Wenn also, wie jüngst bei einem Jodelclub aus dem schweizerischen Walzenhausen geschehen, ein afrikanisches Lied gespielt wird, bei dem »ein weißer Mann mit schwarz bemaltem Gesicht, Trommel und Stroh­rock« (Tagblatt) die Bühne betritt, dann ist das schlechte Appropriation. Denn die Szene stellt schwarze Menschen als Angehörige von wilden Naturvölkern dar, festigt Machtverhältnisse und ist höchstens unter großen Schmerzen als »erfinderisch« zu bewerten. Gut appropriiert haben hingegen zum Beispiel The Clash, als sie für ihr Album »Sandinista!« aus dem Jahr 1980 so unterschiedliche Stile wie Reggae, Jazz, Gospel oder Calypso miteinander vermengten, ohne auf der Bühne so zu tun, als wären sie Afroamerikaner oder Ja­maikaner.

Das ist schon differenzierter, für Balzer aber noch zu einfach: Wie verhält es sich etwa mit dem feinen Unterschied zwischen gut und gut gemeint? Wie übel kann man es einem Kind nehmen, wenn es aufgrund verbreiteter Film- und Fernsehmythen dem Zauber der Cowboy-und-Indianer-Welt erlegen ist? Und ist es die Schuld von Elvis, dass er mit seiner Spielweise »schwarzer« Blues-Rhythmen nur so erfolgreich werden konnte, weil die weiße Mehrheitsgesellschaft der USA in den fünfziger Jahren so durch und durch rassistisch war, dass sie Musik von Schwarzen nur hören wollte, wenn sie von Weißen gespielt wurde?

Solche Fragen stellt sich Balzer und versucht, sie mit etlichen Beispielen aus der Popgeschichte auch weit vor Elvis zu erörtern. Gelegentlich schießt er dabei übers Ziel hinaus, wie es bei Popkritikern nicht selten ist: Etwa dann, wenn er ganz nebenbei schreibt, dass der Public-Enemy-Rapper Flavor Flav eine Uhr um den Hals trage, um zu zeigen, »dass es jetzt darum geht, die Zeit zurückzudrehen und die von der weißen Macht verfälschte Geschichte noch einmal von vorne und neu zu erzählen«. Zwar hat besagter Rapper hin und wieder betont, die gigantische Uhr sei ein Zeichen dafür, »wie wichtig Zeit ist«, mit irgendeinem an Foucault gemahnenden Ungeist von »weißer Macht« hat das aber nichts zu tun.

Zu viel Feuilleton macht eben nicht immer schlau, aber Balzer ist kein Dummkopf, vielmehr weiß er, dass manche Dinge erst einmal wild gedacht werden müssen, damit man der Wahrheit näher kommt. Erfrischend ist »Ethik der Appropria­tion« da, wo der Autor über die Ethik hinausgeht und fragt: Woher die Sehnsucht der Weißen, vor allem der weißen Deutschen, nach einem ­Wilden Westen nach der Art von Karl-May-Romanen, den es so nie gegeben hat? Kein Zufall ist es laut Balzer, dass die Identifikation mit den »­Indianern« als Opfer der Geschichte gerade im postnazistischen Deutschland Konjunktur hatte. Viel zu gern wollte man als »jenes Volk, das ge­rade erst selber einen Genozid an den europäischen Juden vollzogen hat, aus der Rolle der Täter in jene der Opfer« hinüberwechseln.

Ist Ethnokitsch von Dreadlocks bis Räucherstäbchen also am Ende eine Technik der Wiedergutwerdung – und deswegen gerade bei Rechten und denen, die ganz und gar nicht rechts sein wollen, so beliebt? Dass ein Buch von so geringem Umfang solche Fragen provoziert, ist eine Leistung. Und zwar eine, die das simple Sortieren in »Aneignung« und »keine Aneignung« schon nach wenigen Seiten so wirken lässt, wie es ist: reichlich dumm.

Jens Balzer: Ethik der Appropriation. ­Matthes & Seitz, Berlin 2022, 87 Seiten, 10 Euro