Grégory Pierrot will den Hipster dekolonialisieren

Der Hipster ist an allem schuld

Das Sündenregister des Hipsters ist lang. Grégory Pierrot sieht ihn nicht nur als treibende Kraft der Gentrifizierung, sondern auch als Wegbereiter der Faschisierung. Vor allem aber plündere er die schwarze Kultur nach Kolonialherrenart. Leider unterschlägt der Autor in seiner Polemik »Dekolonisiert den Hipster« gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge innerhalb des kapitalistischen Systems.

Laut Google Trends hatte der Suchbegriff »Hipster« den Höhepunkt seiner Popularität vor fast zehn Jahren, im Mai 2013. Seit 2016 ist das Interesse, das Ende der nuller Jahre angestiegen war, rapide geschwunden. Das Gespenst des Hipsters, das in den nuller und zehner Jahren vermeintlich in Cafés und vor allem im Internet umherging, war bereits damals eine historische Figur. Das New Yorker Literaturmagazin n+1 um den Kulturtheoretiker Mark Greif hatte auf einem Symposium 2009 gefragt: »What Was the Hipster?« Ein Jahr erschienen die Beiträge unter demselben Titel als Buch, eine deutsche Übersetzung folgte 2012 (»Hipster. Eine transatlantische Diskussion«). Greifs Beitrag darin trägt den Titel »Nachruf auf den weißen Hipster«.

Schon der grundlegende Text über die ersten schwarzen Hipster der vierziger Jahre in den Jazzclubs der amerikanischen Ostküste, Anatole Broyards Artikel »A Portrait of the Hipster« von 1948, betrachtete das Phänomen retrospektiv und verwendete im ersten Satz die Vergangenheitsform: »As he was the illegitimate son of the Lost Generation, the hipster was really nowhere.« Broyard selbst verbarg Zeit seines Lebens ­seine schwarze Herkunft und wurde als Weißer wahrgenommen.

Die berechtigte Wut über Rassismus und Gentrifizierung und eine sich fortschreibende Kolonialgeschichte gerinnen zu einer simplen Theorie des Sündenbocks. Pierrot sieht im Hipster den Urheber kapitalistischer Verhältnisse, statt ihn als Ausdruck eben jenes Systems zu begreifen, innerhalb dessen Rassismus wirksam ist.

Grégory Pierrot hat den Hipster als Objekt der Kritik in seinem Essay »Dekolonisiert den Hipster« wiederbelebt und geht der Frage nach, wie Schwarzsein im Kontext der Hipness verdrängt wird. Der in Frankreich geborene Autor, der zur atlantischen afrikanischen Diaspora mit Schwerpunkt auf Haiti, Frankreich, den USA und dem Vereinigten Königreich forscht, sieht im weißen Hipster alles rassistische Übel verdichtet: Hipster seien »sowohl Symptom als auch treibende Kraft ethnischer Diskriminierung«.

Um die Hipster aber als diese »treibende Kraft ethnischer Diskriminierung« und »nur die jüngste Ausprägung einer jahrhundertealten kulturellen Tradition« zu konstruieren, bedarf es eines Begriffs von kultureller Aneignung, der die produktive Appropriation der Popgeschichte umdeutet. Pierrot wählt als Ausgangspunkt und klischeehaften Hort der Hipster die Stadt Portland im US-Bundesstaat Oregon. Von dort ausgehend recherchiert er, wie Schwarze aus konkreten Orten und in der Folge aus der Geschichte verdrängt werden. Indierock gilt ihm als die typische Musik der weißen Hipster der nuller und zehner Jahre, er sei nur die »jüngste weiße Aneignung des Blues«.

Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, muss Pierrot ignorieren, dass in der Geschichte der Pop- und Rockmusik Einflüsse und Vorläufer stets gewürdigt wurden. Die weißen britischen Bluesbands der sechziger Jahre wie die Rolling Stones und die Animals oder Musiker wie Eric Clapton und Joe Cocker bezogen sich explizit auf ihre schwarzen Vorbilder, zum Beispiel John Lee Hooker, Howlin’ Wolf und Muddy Waters, die mit dem American Folk Blues Festival durch Europa tourten. Auch die britischen Punk- und Postpunk-Bands wussten immer um ihre Vorbilder im jamaikanischen Dub und Reggae.

Stuart Hall hat mit gutem Grund darauf hingewiesen, dass alle modernen Nationen »kulturell hybrid« sind. Für die britische Popmusik galt dies immer besonders, zumal aus einer rassistischen und kolonialistischen Geschichte heraus. Den Hipstern wurde oft der Vorwurf gemacht, auf die Vergangenheit fixiert zu sein und nur Retromoden auszugraben. Aber zumindest verbargen sie das nicht, anders als Pierrot es ihnen vorwirft. In seiner Konzeption von kultureller Aneignung sind Hipster Kolonisatoren und Diebe: Die »ursprünglichen Hipster« hätten sich »wie Plünderer bei Schwarzen Künstlern und deren Schwarzem Publikum bedient«.

Aufschlussreicher ist der Blick auf die Zeit, bevor der Hipster die Bühne der Geschichte betrat. So zeichnet Pierrot nach, wie sich die europäischen Moden des 18. und 19. Jahrhunderts bei einer »exotistisch fantasierten, fetischisierten Vorstellungen vom Schwarzsein« bedienten oder wie die sogenannten Cakewalks unter der Sklaverei eine Möglichkeit waren, sich durch Codes und »hippes« Geheimwissen über die weißen Unter­drücker lustig zu machen. Doch dafür bräuchte es nicht die Hipster als Sündenböcke. Ebenso wenig für den Hinweis, dass unter den Pariser Bohemiens schwarze Figuren wie Alexandre Privat d’Anglemont beinahe aus der Geschichte getilgt wurden, während der weiße Flaneur Charles Baudelaire als Inbegriff einer Epoche an der Schwelle zur ­Moderne gilt.

Pierrots irritierendstes Argument aber macht Hipster nicht nur zur Avantgarde der kulturellen Aneignung, sondern zu Wegbereitern des Faschismus: »Als der Hipster schließlich doch noch zu Boden ging, mit einer letzten Glosse niedergestreckt, da erhob sich aus seiner leeren Schale der Faschismus.« Dazu konstruiert Pierrot eine Popgeschichte, in der Punk geradewegs zu Nazi-Skins führte, weil im Punk mehrdeutig mit Nazisymbolen gespielt wurde und weil rechte Musik auf Oi-Punk zurückgeht: Die Bezüge auf die Punk- und Postpunkszene bei den Hipstern der nuller Jahre zeige, »dass die Hipster nicht über Nacht zu Nazis ­geworden sind«. Nazis in hippen Klamotten, Stichwort »Nipster«, sind ein altbekanntes Phänomen (Jungle World 29/2014). Aber Pierrot pauschalisiert den Nazi-Vorwurf. Seine Argumentation lautet ungefähr so: Weil Vice das typische punkrockige Hipster-Magazin war und sein Mitgründer Gavin McInnes tatsächlich ein Nazi und Stammvater der Proud Boys ist, sind alle anderen weißen Hipster mitverantwortlich.

Zuletzt begreift Pierrot Hipster als maßgebliche Treiber der Gentrifizierung, die Schwarze aus ihren Wohnvierteln verdränge und somit analog zur Kolonisation verlaufe. So würden Hipster auch noch jene Kulturen feiern, »denen sie den Garaus machten«: »In der hippen Gentrifizierung wird in besonderem Maße materiell manifest, dass Hipstertum Kolonialismus ist.« Die berechtigte Wut über Rassismus und Gentrifizierung und eine sich fortschreibende Kolonialgeschichte gerinnen zu einer simplen Theorie des Sündenbocks. Pierrot sieht im Hipster den Urheber kapitalistischer Verhältnisse, statt ihn als Ausdruck eben jenes Systems zu begreifen, innerhalb dessen Rassismus wirksam ist. Am Ende überzeugt die Argumentation nicht, die den Autor zu seinem pathetischen Schluss führt, auch wenn seine Intentionen unterstützenswert sind. »Es gibt nichts am Hipstertum, das wir versuchen sollten zu retten. Dieser ­Zyklus der Aneignung, des Verdauens, des Auskotzens von Coolness ist eine Wirkweise des Rassismus und Kapitalismus. Zerschlagt den Kapi­talismus, dann dekolonisiert ihr auch den Hipster.«

Wer das Phänomen des Hipstertums bloß historisierend oder gar abwertend betrachtet, übersieht, dass schwarze wie weiße Hipster ein Sozialtypus der westlichen Welt sind. Wie ihre historischen Vorläufer, der Dandy und der Flaneur, sind sie ein Krisenphänomen im – rassistischen – Kapitalismus. Robert Zwarg hat dieses Krisenphänomen und seinen historischen Kontext auf ­beatpunk.org bereits 2011 als Reaktion auf das Entstehen des Prekariats und der ökonomischen Krise begriffen und dabei zugleich den Spott über und das Ressentiment gegen die Hipster entlarvt.

Der Hass auf die Hipster ist häufig Selbsthass derjenigen, die ebenso als Hipster gelten könnten, aber keine sein wollen. Das verhindert vor allem die Erkenntnis über diesen Sozialtypus, der immer nur in Abgrenzung bestimmt wurde. Hipster sind ein Anzeichen gleich mehrerer Krisen und Entdifferenzierungen: von Klasse, Geschlecht, Geschichte, und mehrerer Umbrüche: in der Kultur, Öffentlichkeit und Arbeitswelt. Pierrots Überlegungen darüber, welch blinden Fleck dabei die Kategorie race darstellt, sind notwendig. Leider blickt der Autor allzu polemisch und schlaglichtartig auf historische ­Phänomene, konstruiert gesellschaftliche und kulturelle Bezüge und tilgt so historische und phänomenologische Differenzen.

Grégory Pierrot: Dekolonisiert den Hipster. Aus dem Englischen von Jan-Frederik ­Bandel. Edition Nautilus, Hamburg 2022, 136 Seiten, 18 Euro