Alejandro Gámez Selma, Anwalt, über das reformierte Sexualstrafrecht Spaniens

»Was wirkt, ist Prävention«

Das reformierte spanischen Sexualstrafrecht soll Frauen schützen, indem das Einvernehmen über die sexuelle Handlung in den Mittelpunkt gestellt wird. Damit soll auch ein Wandel in der nach wie vor machistisch geprägten spanischen Gesellschaft vollzogen werden.
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Die rechte Opposition wirft der Regierung, die von der Spanischen ­Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) und der linken Partei Podemos getragen wird, vor, dass wegen Vergewaltigung Verurteilte durch das Ende August in Kraft getretene »Gesetz zum Schutz der sexuellen Freiheit« auf Minderung ihrer Strafen pochen könnten und somit poten­tielle Vergewaltiger angespornt werden. Ist die Kritik berechtigt?

Im Zentrum steht die Frage des Einvernehmens über die sexuelle Handlung. Das neue Paragraphenwerk wird auch »Nur ja heißt ja«-Gesetz genannt, so wie eine langjährige, grundlegende feministische Forderung lautete. Ob sich das Opfer wehrt oder eine Handlung aus Angst oder nach Verabreichung von Drogen geschehen lässt, sexuelle Übergriffe werden nun als »sexuelle Aggression« vor Gericht gebracht. Das Gesetz hebt die bisherige Unterscheidung zwischen »Missbrauch« und »Aggression« auf, Vergewaltigung wird als »sexuelle Aggression mit Penetration« bezeichnet. Die Strafen sind mit vier bis 15 Jahren Haft hoch, es gibt eine Fülle erschwerender Tatbestände, etwa wenn es um Minderjährige geht oder die Taten aus einer Machtposition heraus begangen werden. Aber es gibt auch zahlreiche Gründe für Strafmilderungen. Es sind komplexe Strafdelikte, die sich wie ein Puzzle zusammensetzen. Dass es nun zu Strafmilderungen für bereits Verurteilte kommt, ist möglich. In einigen wenigen Fällen sinken die Strafen von acht auf sechs Jahre. Die Art der Berichterstattung und der Schlag­abtausch zwischen der Rechten und Linken sind übertrieben.
Das Gesetz soll Frauen vor sexueller Gewalt schützen. Seitdem müssen alle beteiligten Personen sexuellen Handlungen ausdrücklich zustimmen. Zudem sollen Vergewaltigungs­opfer umfassende Unterstützung erhalten.

»Es geht um einen Wandel in der spanischen Gesellschaft, die von einem tief verwurzelten Machismo geprägt ist, dem Nährboden für sexuelle Gewalt.«

Diese umfasst Begleitung, psychologische Hilfe, Rechtsberatung und finanzielle Unterstützung, etwa bei Prozesskosten oder durch bereitgestellte Wohnungen – angefangen bei der Anzeige, über den Prozess bis zur Rehabilitation. Opfer zeigen die Täter häufig aus Angst nicht an, ihr Weg vor Gericht wird erschwert, wenn eine Beziehung zwischen Täter und Opfer vorliegt. Die meisten Fälle sexueller Gewalt ereignen sich in Beziehungen oder die Täter sind ehemalige Partner begangen. Den toxischen Beziehungen und Abhängig­keiten zu entkommen, gelingt meist nur mit psychologischer und ökonomischer Unterstützung.

Aber das Gesetz geht noch darüber hinaus?

Es ist nicht nur eine Reform des Strafgesetzbuchs (StGB), sondern soll Frauen einen umfassenden Schutz bieten. Dabei geht es nicht um Straftaten einzelner Männer, sondern um einen Wandel in der spanischen Gesellschaft, die von einem tief verwurzelten Machismo geprägt ist, dem Nährboden für sexuelle Gewalt. Mit einer Änderung des StGB allein kann es nicht gelingen, diesen Machismo auszulöschen. In Spanien existieren seit dem Gesetz »Gegen Gewalt durch Partner oder Ex-Partner« von 2004 der Regierung des ehemaligen Ministerpräsidenten José Luis Rodrí­guez Zapatero (2004 bis 2011, PSOE) Sondergerichte mit eigens geschulten und spezialisierten Angestellten. In jeder Polizeistation wurden einzelne Beamt:innen für den Umgang mit Opfern geschult. In Zukunft sollen Polizei, Staatsanwälte, Richterinnen, Verteidiger oder medizinische Forensikerinnen, die die Opfer unter­suchen, spezifisch zu sexueller Gewalt gegen Frauen und den Umgang mit Opfern durch verpflichtende Schulungen sensibilisiert werden. Die Forschung zu allen Formen sexueller Gewalt soll gefördert werden. Es gibt in Spanien nicht genug wissenschaftliche Erkenntnisse, diese sind jedoch essentiell, um effiziente Maßnahmen zu ergreifen.

Um Vorurteile zu überwinden?

Man kann das beste StGB und die besten Kriminaltechniker der Welt haben, letztlich liegen Verurteilung und Strafrahmen in der Hand der Richter:innen. Durch den tief verwurzelten Machismo dominieren in der Exekutive und der Justiz nach wie vor Beamte mit sehr konservativen Werten. Vorurteile, Persönlichkeit und Ansichten der Beteiligten können Auswirkungen auf das Verfahren und die Opfer haben sowie zu Fehlurteilen führen. Nur selten gibt es Beweise für die Tat, wie gerichtsmedizinische Untersuchungsergebnisse über Verletzungen oder DNS-Spuren. Meist gibt es nur die Aussagen der Opfer und Täter.

Sehen Sie Fehler der linken Regierung?

Es mag sein, dass dem Gesetzgeber beim Verfassen oder in der Kompromissfindung der Koalitionspartner bei der potentiellen Strafverkürzung ein Fehler unterlaufen ist. Die enorme mediale Aufmerksamkeit ist aber übertrieben, Teil der rechten Strategie, die linke Koalitionsregierung zu schwächen, und eine Fortführung der Kampagne gegen Podemos. Das Ministerium für Gleichstellung unter Irene Montero (Podemos) konnte das neue Gesetz auch gegen Widerstände beim sozialdemokratischen Koalitionspartner PSOE durchsetzen, letztlich stimmte das Parlament dem Gesetzentwurf mit deutlicher Mehrheit zu. Übrigens stimmten die Abgeordneten der konservativen Volkspartei (Partido Popular) und der rechtspopulistischen Vox dagegen, mit dem Argument, das Vorhaben gefährde das Prinzip der Unschuldsvermutung.

Andererseits geben sich die Rechten, wie bei Justizthemen seit jeher, entrüstet und kritisieren die Reduzierung von Haftstrafen. Was würden Sie dem entgegnen?

Dass das Problem sicherlich nicht ist, dass in wenigen, fast randständigen Fällen die Strafen um zwei Jahre gesenkt werden könnten. Wir wissen aus zwei Jahrhunderten Erfahrung, dass höhere Strafen nie zu einer geringeren Zahl an Verbrechen geführt und auch nicht die Sicherheit erhöht haben. Mittlerweile ist die Zahl der Häftlinge zwar gesunken, aber über Dekaden hinweg hatte Spanien eine der höchsten Zahlen an Gefängnisinsassen in Europa – was keineswegs die Zahl der Straftaten reduziert hat. Wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass Straftaten gar nicht erst begangen werden. Der Schutz der Frauen vor Gewalt sollte weit davor ansetzen.

Als Linke müssen wir auch gegen eine »Kultur der Haftstrafen« sein. Was stattdessen gegen Kriminalität wirkt, ist Prävention. Dafür setzt das Gesetz auch im Bereich der Schulbildung, den Medien, der digitalen Kommunikation, sozialen Medien, der Werbung und natürlich in der Arbeitswelt an. Die Exe­kutive und Judikative müssen auch ­finanziell und personell gestärkt, die Ausbildung der Angestellten muss verbessert werden. Verfahren dauern schon mal mehrere Jahre. Das liegt auch daran, dass die spanische Justiz ein sehr geringes Budget hat.

Nun will Ministerpräsident Pedro Sánchez (PSOE) mit Ministerin Montero über Nachbesserungen am Gesetz diskutieren.

Das überrascht mich am meisten, denn es wird nichts bringen. Auch wenn das Gesetz nochmals geändert wird – an der Möglichkeit der Strafmilderung in den circa 50 Fällen, die es betrifft, ändert das nichts mehr. Inhaftierte können sich auf die jetzt geltende Regelung aufgrund dessen berufen, dass es bei bereits ausgesprochenen Strafen zu keinem Nachteil für die Verurteilten durch spätere Gesetzesverschärfungen kommen darf. Die Linke hat in den vergangenen ­Wochen leider die Debatte über das Thema Frauenschutz gegen die politische Rechte verloren. Der geht es nicht um Gleichberechtigung, sondern um poli­tische Agitation. Anstatt die politische wie gesellschaftliche Leistung zu unterstreichen, dass dieses Gesetz beschlossen wurde, wird nur über die Strafmilderung gestritten und in den Medien berichtet. Dabei führt das ­Gesetz eine immense Zahl an Verbesserungen ein, die den Schutz von Frauen und die Prävention sexueller Gewalttaten erheblich verbessern.

Haben Sie als Pflichtverteidiger auch beschuldigte Männer vertreten?

Ja, ein erheblicher Prozentsatz der Verfahren endete mit Freispruch. Es kam zu keinem Urteil oder sie wurden ­eingestellt, weil die Frau nicht aussagen wollte. Opfer »versöhnen« sich wieder mit den Tätern, haben »ein­ander ­verziehen«, wollen diesen »nicht mehr Schaden zufügen«, »weil sie ­ohnehin Nächte in der Gefängniszelle verbracht und damit schon genug ­gebüßt haben«. Solche Ausreden finden die Frauen häufig aus Angst vor dem Gewalt­täter oder um die gemeinsamen Kinder.

Das Wichtigste ist es, den Frauen, die Opfer von Sexualverbrechen wurden, den Gang vor Gericht so leicht wie möglich zu machen, aber dabei auch das Recht des Angeklagten auf einen fairen Prozess zu gewährleisten. Dafür sind die Aussagen der Opfer essentiell. Bis jetzt müssen Opfer dreimal zum Tat­hergang aussagen: Bei der Polizei, vor dem Staatsanwalt und vor Gericht. Das könnte verringert werden, etwa dadurch, dass die Anzeige nicht mehr bei der Polizei eingebracht werden muss, sondern gleich am Gericht. Damit bliebe dem Opfer das neuerliche Durchleben zumindest einmal erspart. Im Prozess müssen den Strafverteidigern aber Fragen möglich sein.

Alejandro Gámez Selma, geboren 1981, ist Mitglied des Anwaltskollektivs Red Jurídica, arbeitet in Barcelona und ist spezialisiert auf das Strafrecht. Er studierte Rechtswissenschaft an der ICADE-Universität (Universidad Pontificia Comillas ICAI-ICADE) und absolvierte einen Master-Studiengang in Internationaler Kooperation und Entwicklung. Im 2009 gegründeten Kollektiv Red Jurídica sehen die Anwält:innen ihren Beruf aus ­einer kritischen, solidarischen und sozialen Perspektive. Seine Mitglieder setzen sich mit ihrer jeweiligen Spezialisierung für einen gesellschaftlichen Wandel ein.