Süße Sonne der Versuchung
Von Anbeginn ist sie eine verbotene Frucht: die Capri-Sonne, das süßliche Saftmischgetränk in der Alufolie. Aus Umwelt- und Gesundheitsgründen universell perhorresziert von Lehrkräften, Eltern und sonstigen Aufsichtspersonen, getrunken nur von coolen Problemkindern, sogenannten Halbstarken, mit denen der Umgang verboten war, hatte das Sonnengetränk in meiner Kindheit etwas Sündhaftes, ja Verruchtes; so wie die erste Zigarette oder das erste Yps-Heft; ein gefährliches Vergnügen, fähig, einen unschuldigen Knaben auf die berühmte schiefe Bahn zu führen.
Der Zufall spülte mir neulich, nach gefühlten Äonen, eine Capri-Sonne in die Hände; ich wusste gar nicht mehr, dass das Produkt noch existiert. Fast nichts hatte sich an dem Achtziger-Getränk getan: Noch immer war es in Metallfolie eingeschweißt, kündend von einer Zeit, in der »Ressourcenknappheit« und »Recycling« Schlagworte von randständigen, linksextremistischen Organisationen wie dem Club of Rome und dem Club Med waren. »Capri-Sun« hieß das Getränk jetzt – auch das nahm nichts von seinem Kitzel, ja machte es sogar noch obskurer und gefährlicher, wie ein unleserlich beschriftetes Produkt, das man wider besseres Wissen an einem Straßenkiosk in Taschkent erwirbt. Deutsche Sicherheitsgarantien schienen aufgehoben, man liefert sich komplett der unbekannten Flüssigkeit in der uneinsehbaren Verpackung aus, wie einer Achterbahn im Dunkeln.
Dann noch der Strohhalm. Gemäß Vorschrift besteht er jetzt aus Papier, wiewohl er in Plastikfolie gehüllt ist. Verschwendung und Sparsamkeit machen die Kernmarke aus. Das verzweifelte, letztlich vergebliche Einknispeln des immer wieder abrutschenden und dabei sich selbst schreddernden Strohhalms – hier schien ein Achtziger-Gigant den Recyclinggedanken selbst abzuweisen, sich bequemem Millennial-Konsum mit einer Punker-Geste zu widersetzen. Diesem Getränk ist es egal, ob es getrunken wird; es existiert für sich, in einer zeitlosen Ewigkeit aus Aluminium.
Ich schnitt die Tüte letztlich mit einer Schere auf und goss mir die rötliche Flüssigkeit (Capri Kirsch) in ein Glas. Sie schmeckte phantastisch. Ein Genuss, noch gesteigert durch die Mühen, die seine Eroberung gefordert hatten!
An dieser Stelle schreibt Leo Fischer über seine persönlichen Erfahrungen in der Welt des Konsums. Seine Erlebnisse und Meinungsäußerungen erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.