Die vegetarischen »Gerechten unter den Völkern«

Die gerechten Tolstoj-Anhänger Litauens

In Litauen haben Anhänger der pazifistisch-christlichen Lehre Lew Tolstojs während der deutschen Besatzung Jüdinnen und Juden das Leben gerettet. Ein Ortsbesuch.

In das Walddickicht unweit des nordlitauischen Dorfs Šakyna verirrt sich niemand zufällig. Selbst im Sommer ist es angeraten, sich auf den Pfaden in Gummistiefeln fortzubewegen, die viele ­tiefe Schlaglöcher haben und durch sumpfiges Unterholz voller Zecken führen. Schwer vorstellbar, dass dieser Landstrich einst bewohnt und sogar bewirtschaftet war. Wo heute ein schwer erreichbares Steinkreuz und ein kleines Denkmal stehen, befand sich bis in die fünfziger Jahre das Gehöft von Andriejus Kalendra und seiner Familie. Kalendras Name ist auf dem Gedenkstein eingraviert, neben dem eines weltberühmten russischen Schriftstellers – Lew Tolstoj.

Damit der Stein nicht völlig im wuchernden Grünzeug verschwindet, mähen einige meist ältere Leute mit altertümlich anmutenden Sensen mit langen Holzgriffen in Windeseile eine Schneise in den Wald. Dort haben sich gut drei Dutzend Besucher eingefunden. Eine Galerie im knapp 40 Kilometer entfernten Šiauliai hat Gäste zu einer Gedenkveranstaltung geladen. Ein Drittel der Anwesenden besteht aus ­Kalendras Nachkommen und den Enkeln anderer Tolstoj-Anhänger aus der Region. Natürlich geht es auch um den Schriftsteller, im Zentrum aber steht an diesem sonnig heißen Augusttag das Gedenken an Kalendra und ­andere von Tolstoj beeinflusste Litauer, die während der Zeit der deutschen ­Besatzung Jüdinnen und Juden das Leben gerettet haben.

Im vergangenen Jahr wurde in Šiauliai auf Betreiben der jüdischen Gemeinde das erste Denkmal für Gerechte unter den Völkern in Litauen eingeweiht.

Im vergangenen Jahr wurde in Šiau­liai auf Betreiben der jüdischen Gemeinde das erste Denkmal für Gerechte unter den Völkern in Litauen eingeweiht. Darauf finden sich die Namen von Menschen, die diesen Ehrentitel erhalten haben, weil sie sich gegen den Rassenwahn der deutschen Besatzer und ihrer Helfershelfer stellten. Vor dem Krieg machten Juden in Šiauliai fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung von etwa 30 000 Personen aus. Wer nicht in den ersten Besatzungstagen erschossen wurde, landete zunächst in den 1941 von den Deutschen eingerichteten Ghettos von Kaunas und Vilnius und später in den Konzentrationslagern. Überlebt haben nur wenige Hundert Juden. Es fehlt auf den Steinplatten in Šiauliai, die die Namen der Gerechten zeigen, zwar ein entsprechender Vermerk, aber von auffallend vielen der hier aufgeführten Personen ist bekannt, dass sie sich der Philosophie Tolstojs verbunden fühlten.

Lew Tolstoj hat ein umfangreiches literarisches Werk hinterlassen, darunter die weltberühmten Romane »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina«. Zu seinen Lebzeiten noch größeren Einfluss dürften allerdings seine in Massenauflagen erschienenen Schriften gehabt haben, in denen er seine Vorstellungen von Ethik und Religion unters Volk brachte. Er propagierte eine vor allem von der Bergpredigt beeinflusste christliche Lehre. Wichtige Elemente waren Gewaltfreiheit und Ablehnung staat­lichen Zwangs.

Der 1884 geborene Andriejus Kalendra machte mit diesen Schriften in Riga erste Bekanntschaft, wo er ­seine Schulbildung erhielt. Später führte er mit Schriftsteller eine Korrespondenz – Tolstoj lebte bis 1910 –, die ihn in seinen Überzeugungen gefestigt haben dürfte. Aus Familienerzählungen ist seine Treue zu den Prinzipien der Tolstoj’schen Lehre überliefert, wie etwa zum Vegetarismus. Kalendra diente in der Handelsflotte, während des Ersten Weltkriegs entzog er sich dem Militärdienst in der zaristischen Armee, indem er zeitweise nach Dänemark übersiedelte. Zurück im 1918 noch unter deutscher Besatzung unabhängig gewordenen Litauen verschaffte ihm sein als Beamter tätiger Bruder jenes abgelegene Grundstück.

Gemeinsam mit anderen Tolstoj-­Anhängern gelang es Kalendra im November 1943, die jüdische Familie Gordimer – zwei Erwachsene und zwei Kinder – aus dem Ghetto zu befreien und zu verstecken. Sofia, eine von Kalendras Töchtern, heiratete später Leonas Levinskas, der ebenfalls in einem von Tolstojs Ideen beseelte Elternhaus aufgewachsen war. Seine Familie lebte im direkt an der Grenze zu Lettland ­gelegenen Žagarė, wo sie eine jüdische Frau und ein jüdisches Mädchen versteckte, obwohl sich im Nachbarhaus Soldaten der sogenannten Wlassow-Armee einquartiert hatten, also Russen, die freiwillig auf Seiten der Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpften. Die hielten regelmäßig bei den Levinskas Einkehr, um Wodka zu trinken und ­sowjetisches Radio zu hören. Da Gastfreundschaft zu den obersten Grundsätzen von Tolstojs Ethik zählt, kam es den Levinskas gar nicht erst in den Sinn, den Gefahrenbringern in Uniform die Tür zu weisen.

Zum Verhängnis wurde den Tolstoj-Anhängern ihre Standhaftigkeit erst nach Abzug der Wehrmacht. Augustas und Klara Vaškis, bei denen die Gor­dimers zeitweise untergekommen waren, wurden von Rotarmisten erschossen, vermutlich weil sich Augustas geweigert hatte, sich den sowjetischen Truppen anzuschließen. Die Levinskas wurden in die Verbannung nach Tadschikistan geschickt, die nur Vater und Sohn überlebten.

Antisowjetische litauische Partisanen, sogenannte Waldbrüder, suchten regelmäßig das abgelegene Haus von Andriejus Kalendra auf, um sich mit Proviant zu versorgen – als Tolstoj-Anhänger konnte er ihnen diese Bitte schließlich nicht abschlagen. Den sowjetischen Behörden war dieser Umstand bekannt, Kalendra weigerte sich jedoch, die Partisanen zu denunzieren. Als überzeugter Pazifist ließ er sich ­lediglich darauf ein, sowjetische Flugblätter mit Aufrufen, die Waffen niederzulegen, weiterzugeben. 1951, nachdem der Widerstand der Waldbrüder gebrochen war, wurde Kalendra verhaftet und mit seiner Familie nach Sibi­rien deportiert, wo er im Jahr darauf starb.

Seine Frau und Töchter lebten später wieder in Litauen. Von Tolstoj hält die Enkelgeneration immer noch viel, wie manche von ihnen erzählen. Nur ein Leben ohne Fleischkonsum können sie sich nicht wirklich vorstellen.