Zohra Mousavi im Gespräch über die Lage der LGBT-Community in Afghanistan

»Viele sind auf der Flucht«

Zohra Mousavi von der Menschenrechts­organisation ILGA Asia über die Lage der LGBT-Community in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban.
Interview Von

Ein Jahr ist seit der Machtergreifung der Taliban vergangen. Wie haben Sie den 15. August 2021 verbracht?

Ich war rund um die Uhr an meinem Handy und habe die Nachrichten verfolgt, habe ständig Twitter aktualisiert. Es ging mir wie vielen anderen – mit dem Unterschied, dass ich mich in Deutschland in Sicherheit befand. Für uns in der Diaspora ist das etwas anderes als für meine Freundinnen und Freunde in Afghanistan. Aber bei uns allen herrschte ein Gefühl der Fassungslosigkeit, vor allem in der jungen Generation. Viele von uns kennen nur die Geschichten unserer Eltern aus den Kriegsjahren. So etwas aus erster Hand erfahren zu müssen, wirkt völlig unwirklich.

Wie blickten Homosexuelle und transgeschlechtliche Personen der Taliban-Herrschaft damals ent­gegen?

Beängstigt. Sie wussten, was auf sie zukommt. Zwar wurde Homosexualität schon vorher kriminalisiert – zum Beispiel hat der afghanische Staat gefälschte Grindr- oder Facebook-Konten eingerichtet, um Homosexuelle zu Verabredungen zu locken und dort zu verhaften. Dennoch war die Strafverfolgung eher inkonsequent. Unter der früheren Regierung war Afghanistan Teil der internationalen Gemeinschaft und musste sich an die Menschenrechtskonventionen halten. Es gab Inhaftierungen und körperliche Gewalt, es konnte aber keine Todesstrafe verhängt werden. Bei den Taliban ist das anders. Es gibt noch keine offizielle Erklärung von ihnen, aber wir haben ­Interviews von Homosexuellen und Trans-Personen, die inhaftiert, gefoltert und sexuell missbraucht wurden.

Seit der Machtübernahme gibt es für Homosexuelle in afghanischen Familien drei Optionen: Sie können heterosexuell heiraten oder das Haus verlassen, oder die Familie meldet sie den Taliban, um sie verhaften zu lassen.

Wie sah das queere Leben in Afghanistan vor der Machtergreifung der Taliban aus?

Insbesondere in großen Städten wie Kabul, Mazar-i-Sharif und Herat gab es intime soziale Räume wie Bars und Cafés, vor allem im Untergrund. Man hat nur davon erfahren, wenn man Teil der Community war oder dort jemanden kannte. Auch Orte, die von Heterosexuellen dominiert waren, wurden von Homosexuellen genutzt. Ich würde es nicht Koexistenz nennen, doch sie hatten mehr Möglichkeiten. Außerdem gab es vor der Taliban-Herrschaft vier Millionen User von Apps wie Facebook und Instagram, aber auch Tinder und Grindr. Die LGBT-Community konnte diese Plattformen zu ihrem Vorteil nutzen, Aufmerksamkeit für ihre Rechte erreichen und andere Verbündete finden.

Und nach der Machtübernahme?

Seitdem existieren beide Räume, online und offline, nicht mehr. Fast alle haben ihre Konten gelöscht, Online-Aktivismus ist nun fast unmöglich. Viele Mitglieder der Community sind auf der Flucht. Alle Treffpunkte sind geschlossen, wie viele andere Cafés, Bars und Restaurants der jungen Generation. Es gibt Berichte von schwulen Männern, die von den Taliban gefoltert wurden, damit sie Informationen über andere Schwule preisgeben. Aufgrund der Bedrohung sind sie nun vollkommen voneinander isoliert. Das Regime nutzt die gleiche Teile-und-herrsche-Strategie wie die Kolonisatoren damals – und es funktioniert.

Was haben die Taliban davon?

Die Sharia-Gesetze durchzusetzen, gibt ihnen die Möglichkeit, sich als neue Regierung zu beweisen. Sie nutzen die Vorstellung, Homosexualität sei eine Krankheit der afghanischen Gesellschaft. Es gab die gleiche Propaganda, als sie das letzte Mal an der Macht waren, und es gibt viele Ähnlichkeiten zu anderen Regierungen in der Region, zum Beispiel im Iran. Das betrifft insbesondere die Rechte von Frauen. Sie werden in Afghanistan zu Reproduktionsmaschinen degradiert. Männliche Familienmitglieder übernehmen nun die früheren Arbeitsplätze der Frauen, und was diesen übrigbleibt, ist bloß noch das Gebären und Aufziehen der Kinder.

Die afghanische Wirtschaft ist kollabiert. Unterscheidet sich die mate­rielle Situation von Homosexuellen oder Trans-Personen noch vom Rest der Gesellschaft?

Es gibt eine zusätzliche Ebene der Unterdrückung. Das beginnt schon im engsten Familienkreis. Seit der Machtübernahme gibt es für Homosexuelle in afghanischen Familien drei Optionen: Sie können heterosexuell heiraten oder das Haus verlassen, oder die Familie meldet sie den Taliban, um sie verhaften zu lassen. So sind sie ständig auf der Flucht, verlieren ihr familiäres Netzwerk und damit eine sichere Unterkunft, finanzielle Unterstützung und Kapital. Eine weitere Herausforderung ist die Gesundheitsversorgung. Wer an Aids erkrankt ist, konnte vorher Hilfe von humanitären Organisationen erhalten. Die meisten von diesen haben nun ihre Arbeit eingestellt, insbesondere für die LGBT-Community.

Ist es noch möglich, an Präventionsmittel für Geschlechtskrankheiten zu kommen? Oder an Hormone für Trans-Personen?

Nein. Es gibt eine große Lücke im ­Versorgungssystem und niemand ist bereit, sie zu schließen.

Wie gestaltet sich die Arbeit Ihrer Organisation in Afghanistan?

Im Oktober haben wir das Projekt begonnen – mit nur drei Mitarbeitenden, denn wir haben kaum finanzielle Mittel. Wir verfolgen drei Ziele: humanitäre Hilfe zu leisten und die Evakuierung von LGBT zu ermöglichen, die internationale Gemeinschaft über die Situation der Community in Afghanistan zu informieren und auf die Regierungen einzuwirken, damit sie afghanische LGBT unterstützen und humanitäre Visa ausstellen. Als kleine Organisation ringen wir mit vielen Einschränkungen. Für die finanzielle Unterstützung müssen wir Fundraising-Kampagnen starten oder mit Partnerorganisationen zusammenarbeiten. In wenigen Fällen bieten wir außerdem psychosoziale Beratung an.

Was unterscheidet ILGA Asia von größeren Hilfsorganisationen?

Weil ILGA Asia ihren Sitz in der Region hat, sind wir einfach näher dran. Große Organisationen stehen vor Herausforderungen, wenn sie direkt mit der LGBT-Community in Afghanistan arbeiten wollen. Sie bekommen entweder keinen Zugang oder verlieren sich in einem bürokratischen Papierkrieg. Wir können Unterstützung an der Basis leisten. Dafür stehen wir in direktem Kontakt mit Einzelpersonen. Dieses Wissen können wir größeren Partnerorgani­sation zur Verfügung stellen, um politische Lobbyarbeit zu leisten und west­liche Regierungen zu Reformen zu drängen. Alleine hätten wir diesen Einfluss nicht.

Hat ILGA Asia viele Partner in ­Afghanistan?

Nicht viele, aber einige wenige, denen wir von ganzem Herzen vertrauen. Meist geht es um medizinische Versorgung und logistische Unterstützung, vor allem bei der Suche nach Unterkünften. Wir haben auch Partner in Nachbarländern wie Pakistan, das häufig als Transitland genutzt wird.

Human Rights Watch berichtete im Januar, dass Angehörige der LGBT-Community besondere Schwierigkeiten habe, das Land zu verlassen. Wie äußert sich das?

Frauen ist es verboten, ohne einen männlichen Begleiter zu reisen. So haben Lesben, die von ihrer Familie verstoßen wurden, keine Chance, dass ein Bruder, Vater oder Ehemann sie begleitet. Viele besitzen keine Reisedokumente. Außerdem haben die Taliban viele Passämter geschlossen. Ein Visum für Pakistan können sich die meisten auf dem Schwarzmarkt nicht leisten. Nun haben wir beispielsweise eine lesbische Frau ohne Pass, ohne Visum, ohne Begleitung, die eine E-Mail von den deutschen Behörden bekommt, in der steht: Sie müssen selbständig das Land verlassen, wir können Ihnen nicht einmal Geld für ein Ticket geben, aber hey – wenn Sie nach Islamabad kommen, helfen wir Ihnen! Das ist nutzlos für unsere Leute.

Im deutschen Asylverfahren müssen Homosexuelle ihre Zugehö­rigkeit zu solch einer gefährdeten Gruppe nachweisen. Welche Pro­bleme bringt das mit sich?

Das ist unmenschlich. Wie soll man das schon beweisen? Besonders bei der Anerkennung von Partnerschaften ist das eine große Herausforderung. Es gibt keine gleichgeschlechtliche Ehe in Afghanistan. Es gibt kein offizielles Dokument, das eine solche Beziehung belegt, also wird sie von den potentiellen Asylländern auch nicht anerkannt. Viele schwule Afghanen mussten eine Frau heiraten und haben Kinder bekommen. Doch für die komplizierten Familienstrukturen in Afghanistan gibt es kein Verständnis. Wenn der Mann dann doch ein humanitäres Visum erhält, sind Frau und Kinder nicht inbegriffen, obwohl sie aufgrund der sexuellen Orientierung des Mannes ebenfalls in Gefahr sind,

Im Januar hat die deutsche Regierung beschlossen, 80 LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten aus Afghanistan aufzunehmen. Reicht das?

Nein. Und wir wissen noch immer nicht, wen sie mit »LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten« überhaupt meint. Ein politischer Aktivist kann seine Parteimitgliedschaft nachweisen. Doch niemand ist verrückt genug, sich in Afghanistan offiziell in einer LGBT-Or­ganisation registrieren zu lassen, das wäre sein Todesurteil. Natürlich gibt es Mitglieder von Organisationen, die in anderen Ländern ansässig sind. Aber das überzeugt die deutsche Regierung nicht, weil diese ihren Sitz nicht in Afghanistan haben. Wir haben versucht, ihr zu vermitteln, dass es auch eine andere Form von Aktivismus gibt – und zwar digital. Das ließe sich auch nachweisen. Leider gibt es zu wenige, die uns Gehör schenken.