Der Kronzeuge Johannes D. sagte im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren aus

Verraten und verkauft

Sollte es in einigen Monaten zu einer Verurteilung von Lina E. und weiteren Angeklagten kommen, könnten dafür die Verhandlungstage Ende Juli und Anfang August die entscheidenden gewesen sein. An diesen sagte der von der linken Szene als Verräter bezeichnete Johannes D., offenbar selbst ehemaliges Mitglied der »Gruppe E«, vor Gericht umfassend aus.

Am 15. Juni gab es den ersten Hinweis auf eine mögliche Wende im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren. Bis zu jenem Mittwoch hatten mehr als 50 Verhandlungstage erhebliche Zweifel an der Schuld der Angeklagten gelassen. Seit September vergangenen Jahres läuft das Verfahren gegen Lina E., eine junge Frau aus Leipzig, und drei Mitangeklagte. Ihnen werden die Bildung einer kriminellen Vereinigung und sechs schwere Angriffe auf Neonazis vorgeworfen. E. steht als angebliche Anführerin im Fokus. Doch bislang konnte oder wollte keiner der angegriffenen Neonazis und kein Zeuge E. oder einen ihrer drei Mitangeklagten identifizieren.

Doch während manche linke Sympathisanten wohl schon auf einen Freispruch hofften, war den Ermittlungsbehörden längst ein Durchbruch gelungen. Bereits im April war Johannes D. im Zeugenschutzprogramm des Landeskriminalamts (LKA) Sachsen gelandet. Bei ihm handelt es sich weder um einen Neonazi noch um einen Beamten, sondern um ein mutmaßliches ehemaliges Mitglied der sogenannten Gruppe E, die sich um die prominenteste Angeklagte geschart haben soll. Zwar sitzt D. nicht selbst auf der Anklagebank, doch er soll an mindestens einem Angriff beteiligt gewesen sein.

An jenem 15. Juni war in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) zu lesen: »Gruppenmitglied von Lina E. hat offenbar ausgepackt«. Anlass für den Bericht waren mehrere Hausdurchsuchungen, die die Polizei im Leipziger Stadtteil Connewitz durchführte. Die Razzien zielten auf Personen aus E.s Umfeld. Wie umfangreich D. »ausgepackt« hatte, wurde allerdings erst kurz darauf deutlich, als verschiedene Medien berichteten, dass seine Aussage beim LKA mehrere Tage gedauert und Hunderte Seiten gefüllt haben soll. Nicht nur zur »Gruppe E« soll er den Behörden wichtige Informationen geliefert haben, sondern auch zu Personen und Strukturen der linken Szene im Allgemeinen. Einen ähnlich großen »Verrat«, wie es viele Linke anschließend formulierten, dürfte es schon lange nicht mehr gegeben haben.

Was Johannes D. motiviert haben könnte, als Kronzeuge auszusagen, wurde schnell klar: der aus seiner Sicht unfreiwillige Bruch mit der linken Szene.

Was D. motiviert haben könnte, wurde schnell klar: der aus seiner Sicht unfreiwillige Bruch mit der linken Szene. Dieser war im vergangenen Oktober erfolgt, als auf Indymedia ein Text erschien, der ihn unter anderem der Vergewaltigung beschuldigte. Bei der Autorin des Beitrags handelte es sich angeblich um eine Ex-Freundin. »Die Beziehung mit ihm war eine massive Gewaltbeziehung«, heißt es darin. Der Veröffentlichung der Vorwürfe sei jahrelange »Täterarbeit« vorausgegangen, ist in dem Text zu lesen. Dabei habe D. sein Fehlverhalten eingestanden, sei dann aber doch wieder übergriffig geworden. Der Text enthielt zudem den vollständigen Namen, Fotos und Angaben unter anderem zu Geburtstag und Wohnort.

Genauer äußerte sich D. zu seinen Motiven im Rahmen der mündlichen Hauptverhandlung. Ab dem 28.Juli sagte er an mehreren Prozesstagen aus, zuletzt am 5. August. Der Indymedia-Artikel habe dazu geführt, dass Anti­faschisten ihm »Betretungsverbote« für bestimmte Städte erteilt hätten, er in Warschau von Neonazis erkannt worden sei und dort auch einen Arbeitsplatz verloren habe. Die Anschuldigungen seiner Ex-Freundin wies er zurück. Ein staatliches Ermittlungsverfahren sei eingestellt worden.

D. und sein Rechtsanwalt hatten beantragt, die Öffentlichkeit während seiner Aussage auszuschließen. Sie äußerten Sicherheitsbedenken, die das Oberlandesgericht Dresden durchaus ernst zu nehmen schien. So sagte der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats, dass er auch Indymedia lese. Zudem war vor der Gerichtsverhandlung ein Soli-Video aufgetaucht, in dem ein Graffito zu sehen war, das als Morddrohung gegen D. verstanden werden konnte. Den Antrag zogen D. und sein Rechtsanwalt schließlich aber zurück.

D. gab zahlreiche Details preis. So ging er beispielsweise auf einen Angriff auf Neonazis im Dezember 2019 ein, zu denen der Gastwirt Leon R. und mehrere seiner Gäste gehörten. R. steht mittlerweile selbst unter Terrorismusverdacht. Im April gab es eine bundesweite Razzia gegen Nazi-Netzwerke, die sich auch gegen ihn richtete. Er soll ein Anführer der rechtsextremen Kampf­sportgruppe »Knockout 51« sowie Anhänger der Neonazi-Terrorgruppe »Atomwaffen Division« sein und wird der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verdächtigt. Er steht außerdem im Verdacht, 2018 in Chemnitz am Angriff auf das jüdische Restaurant »Schalom« beteiligt gewesen zu sein.

2019 sei es D.s Aufgabe gewesen, der »Gruppe E« mitzuteilen, wann R. den Heimweg antrat. Dann hätten die Antifaschisten zugeschlagen. Die von den Ermittlungsbehörden als Anführerin beschuldigte E. habe den Ablauf des Angriffs beobachtet und auf möglicherweise auftauchende Risiken geachtet. Einige Monate später habe es ein Auswertungstreffen gegeben, bei dem der Angriff als gescheitert betrachtet wurde – weil nicht R., sondern vor allem dessen Begleiter verletzt wurden. Außerdem hatte die Polizei nach der Tat ein Fluchtauto angehalten, in dem E. saß. Dadurch war die Polizei auf ihre Spur gekommen.

Besonders für E. und deren flüchtigen Lebenspartner Johann G. dürfte sich die juristische Lage durch die Aussage des Kronzeugen verschlechtert haben. Immer wieder sagte D. aus, die beiden Beschuldigten seien Ansprechpersonen bei Aktionen gewesen. Die Aufgabe von D. sei es vor allem gewesen, potentielle Ziele auszukundschaften. Das habe er beispielsweise getan, indem er in Zügen mitgefahren sei und reisende Neonazis beobachtet habe. Die an andere Antifaschisten weitergegebenen Informationen über Gruppengrößen und Aufenthaltsorte hätten manchmal zu »erfolgreichen« Aktionen, also Angriffen von Antifaschistinnen, geführt und manchmal nicht.

Im Laufe der mehrtägigen Aussage erhielt die Öffentlichkeit zudem teils tiefe Einblicke in die Strukturen von antifaschistischen Gruppen. Konkret benannte D. Orte wie das ehemals besetzte Bahngebäude »Black Triangle« in Leipzig, in dem für Angriffe auf Neonazis trainiert worden sei. Auch über Inhalte solcher Trainings oder verschlüsselte Kommunikation gab D. Auskunft. Der vorerst letzte Verhandlungstag, bei dem er anwesend war, endete mit einem wütenden Zwischenruf aus dem Publikum, dass er »geliebt« worden sei, aber nun »einsam sterben« werde.

Außerhalb des Gerichtsgebäudes fanden Kundgebungen statt, die sich ausführlich dem »Verrat« widmeten. Das »Solidaritätsbündnis Antifa Ost« nannte Rache als Motiv für D.s Ver­halten. Dass ein »Vergewaltiger« politisch nicht integer sei und mit Behörden zusammenarbeite, die selbst sexistische Weltbilder verträten, sei nicht überraschend.