Jair Bolsonaro lanciert Putsch­gerüchte vor der brasilianischen Präsidentenwahl

Putschgerüchte vor der Wahl

Unlängst bestätigte eine Studie, was für viele Menschen in Brasilien traurige Realität ist: 20 Millionen Städter und Städterinnen lebten 2021 in Armut – 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Inflation ist hoch, insbesondere die Energiepreise steigen, und die Arbeitslosigkeit klettert auf immer neue Rekordwerte. Nicht wenige machen mittlerweile vor allem einen Mann für das Ausmaß der Wirtschaftskrise verantwortlich: Jair Messias Bolsonaro.

Der rechtsextreme Präsident will im Oktober wiedergewählt werden, liegt in den Umfragen aber klar hinter Luiz Inácio »Lula« da Silva. Dieser, ein ehemaliger Gewerkschaftsführer, ist der Kandidat der Arbeiterpartei (PT) und ­regierte bereits von 2003 bis 2010. In diesem Jahr plant er, an die Spitze des größten Landes Lateinamerikas zurückzukehren.

Während es dem ultrarechten Amtsinhaber 2018 mit seiner Inszenierung als Anti-Establishment-Kandidat und dem geschickten Einsatz der sozialen Medien gelang, viele Wähler und Wählerinnen hinter sich zu bringen, dürfte ein ähnlicher Erfolg in diesem Jahr schwierig werden. Bolsonaros größte Probleme sind die schwere Wirtschaftskrise und die wachsende Armut.

Außer auf die Covid-19-Pandemie und die globale Wirtschaftslage ist der Anstieg der Armut auch auf die Politik der Regierung zurückzuführen. Für den Austeritätskurs ist vor allem Wirtschaftsminister Paulo Guedes verantwortlich. Der 72jährige Ökonom, einst Investmentbanker, ist ein Neoliberaler, wie er im Buche steht. Er studierte unter anderem an der University of Chicago bei Milton Friedman, arbeitete auf Einladung des Pinochet-Regimes an einer chilenischen Universität und gründete in Brasilien neoliberale Think Tanks. Unter seiner Federführung wurden Staatsbetriebe privatisiert, Gewerkschaften entmachtet und Sozialprogramme zerschlagen.

Die Regierung Bolsonaro unternimmt nichts, um den Hunger zu bekämpfen. Eine ihrer ersten Amtshandlungen bestand darin, den Nationalen Rat der Ernährungssicherheit (Consea) abzuschaffen.

Anfang August machte ein Titelfoto der Tageszeitung O Globo in den sozialen Medien die Runde. Es zeigt Menschen, die in einem Müllwagen nach Essensresten suchen. 31 Millionen Brasi­lianer und Brasilianerinnen, 15 Prozent der Bevölkerung, hungern bereits. Das fand die Forschungsgruppe Food for Justice heraus, die am Lateinamerika-Institut in Berlin angesiedelt ist. Mehr noch: Schwindelerregende 59,4 Prozent der Bevölkerung litten unter »Ernährungsunsicherheit«. Das heißt, der regelmäßige Zugang zu Nahrungsmitteln in ausreichender Menge oder Qualität ist gefährdet.

Die Regierung Bolsonaro unternimmt nichts, um den Hunger zu bekämpfen. Eine ihrer ersten Amtshandlungen bestand darin, den Nationalen Rat der Ernährungssicherheit (Consea) abzuschaffen. Bolsonaros zerstörerische Umweltpolitik, oft zulasten indigener Gemeinden, und seine Nähe zum mächtigen Agrobusiness verschärfen die Lage weiter. Zeitungen berichten von Schulkindern, die in Klassenzimmern kollabieren, weil sie nicht ausreichend ernährt sind. Der Verzehr von Rindfleisch, für Brasilien so etwas wie ein Wohlstandsindikator, ist zuletzt stark zurückgegangen.

So ist es kein Wunder, dass Bolsonaro in Umfragen gerade bei Armen miserabel abschneidet. Doch eine Sache könnte ihm nun zugutekommen: Auf Antrag der Regierung erklärte der Kongress, das Zweikammerparlament Brasiliens, unlängst einen Notstand, der die verfassungsmäßige Obergrenze für Staatsausgaben außer Kraft setzt. Das ermöglicht mehr Ausgaben für Sozialhilfe. Die erhöhten Auszahlungen erfolgten erstmals am 9. August. Obwohl sie auf drei Monate befristet sind und von der Opposition – die die Maßnahme im Kongress mehrheitlich mittrug – als »reines Wahlkampfmanöver« kritisiert werden, ist davon auszugehen, dass Bolsonaro davon profitieren wird. Ob es jedoch reicht, um zu dem mit weitem Vorsprung führenden Lula aufzuschließen, wird in den meisten Analysen bezweifelt.

Zudem wettert der Präsident in der Manier Donald Trumps gegen Institutionen und Verfahren der Demokratie. Bolsonaro nährt Zweifel am elektronischen Wahlsystem – obwohl es erst im Mai einen Sicherheitstest ohne Probleme bestanden hat. Mehrfach verlautbarte er, »nur Gott« könne ihn von der Präsidentschaft entfernen. Dass Bolsonaro die Wahlergebnisse im Fall einer Niederlage akzeptiert, gilt als so gut wie ausgeschlossen. Einige befürchten, er werde mit allen Mitteln versuchen, sich an der Macht zu halten, notfalls auch mit Gewalt. Denn für ihn steht viel auf dem Spiel: Gegen Bolsonaro laufen mehrere Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen Falschinformationen über Covid-19, die zu Anklagen führen könnten, sollte er seine Immunität durch eine Wahlniederlage verlieren. Nicht wenige glauben, dass er verurteilt werden könnte, einige rechnen gar mit einer Haftstrafe. Bolsonaro sagte mehrfach, eine Verurteilung werde er nicht akzeptieren. Eher werde er mit einem großen Knall untergehen, meinen viele. Und so wird auch die Gefahr eines Putschs in der brasilianischen Presse erörtert.

Bolsonaro ist selbst Hauptmann der Reserve, hat seine Karriere bei der Truppe begonnen und genießt gerade in den unteren Rängen viel Unterstützung. Etliche Armeeangehörige gehören der Regierung an, leiten mehrere Ministerien und haben so viel Einfluss wie seit der Militärdiktatur (1964–1985) nicht mehr. Doch Bolsonaro ist nicht unumstritten. Einige können ihm seine Eskapaden als junger Soldat nicht verzeihen, andere stört sein ungehobelter Ton. Es ist fraglich, ob sie sich auf ein autoritäres Experiment einlassen würden.

Die meisten Expertinnen und Experten meinen, Bolsonaro fehle es für ­einen klassischen Putsch schlicht an Unterstützung. Die USA hatten zuletzt ihr Vertrauen in das brasilianische Wahlsystem ausgedrückt und zu verstehen gegeben, einen autoritären Umsturz nicht mitzutragen. Außerdem gibt es in Brasilien eine überaus kritische Zivilgesellschaft.

Am 11. August wurde in São Paulo ein offener Brief zur »Verteidigung der Demokratie« vorgestellt. Der Appell wird als direkte Reaktion auf die Putschphantasien Bolsonaros verstanden. Unterschrieben haben unter anderem ehemalige Richter des Obersten Gerichtshofs, Musiker und fast eine Million Brasilianerinnen und Brasilianer ohne besondere Prominenz. Interessant ist, dass auch der Präsident des eigentlich stramm rechten Industrieverbands von São Paulo sowie der Bankenverband das Manifest unterzeichneten. Bei der Wahl 2018 hatten sich viele Wirtschaftsbosse noch auf die Seite Bolsonaros ­geschlagen.

Viele Unternehmer und Unternehmerinnen, vor allem aus transnationalen Agrarkonzernen, stehen zwar weiterhin treu an der Seite des Präsidenten. Dass nun aber einige zur Verteidigung der Demokratie aufrufen und ihr Vertrauen in den Wahlprozess ausdrücken, ist ein klares Signal an Bolsonaro. Ohne die Unterstützung der Unternehmer dürfte es für ihn schwer werden, die Wahl doch noch zu gewinnen oder nach einer Wahlniederlage einen Putsch zu unternehmen.

Bolsonaros Anhängerinnen und Anhänger bereiten sich ebenfalls auf die Wahl vor. Der Präsident kann sich auf seine treue Basis – rund 25 Prozent der Bevölkerung – verlassen. Einige schrecken auch vor Gewalt nicht zurück. Anfang Juli ermordete ein fanatischer Anhänger Bolsonaros einen Lokalpolitiker des PT an dessen Geburtstag. Vielen erwarten auch den 9. September mit großer Sorge. An diesem Tag, dem Nationalfeiertag, sind Proteste im ganzen Land geplant. Bereits im vergangenen Jahr demonstrierten Zehntausende Rechte für »ihren Präsidenten«, einige forderten gar einen Militärputsch. Ähnliches ist in diesem Jahr zu erwarten – auch nach der Wahl. Selbst wenn es gelingen sollte, Bolsonaro im Oktober abzuwählen, dürfte der Bolsonarismus dem Land noch lange erhalten bleiben.