Kämpfe in der Ukraine um das AKW Saporischschja

Scharmützel am Atomkraftwerk

Russische Truppen nutzen das Gelände des ukrainischen Atomkraft­werks Saporischschja angeblich, um Raketen abzufeuern. Die Atom­energiekommission ist alarmiert.

Die Lage um das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja eskaliert. Das AKW, etwa 70 Kilometer südwestlich der gleichnamigen Großstadt am Ufer des breiten Stroms Dnipro (russischer Name: Dnjepr) gelegen, stand am 5. August unter Beschuss. Mittags und erneut am Abend schlugen Geschosse auf dem Gelände ein. Zwar wurde kein ­Reaktor getroffen, aber eine Hochspannungsleitung beschädigt, was eine Notabschaltung bei einem der sechs Blöcke auslöste, von denen allerdings nur drei in Betrieb waren. Schäden gab es auch an peripheren Einrichtungen. Unter dem Aspekt der nuklearen Sicherheit war es der kritischste Zwischenfall in der Anlage seit ihrer Besetzung durch russische Truppen vor fünf Monaten.

Noch am gleichen Abend beschuldigten sich beide Seiten gegenseitig, für den Beschuss verantwortlich zu sein. Das russische Militär behauptete, vom gegenüberliegenden Ufer des Dnipro sei über den Fluss geschossen worden. Das ukrainische Unternehmen Energo­atom, dessen Personal das AKW immer noch betreibt, erklärte, die Explosionen auf dem AKW-Gelände stammten von russischen Raketenwerfern. Russland missbrauche das Kraftwerk für militärische Aktivitäten und verfolge den Plan, seine Infrastruktur zu zerstören und es vom ukrainischen Energienetz zu trennen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nahm diese Darstellung umgehend in seiner nächtlichen Fernsehansprache auf. »Heute haben die Besatzer wieder eine äußerst riskante Situation für alle Europäer geschaffen – sie haben das AKW Saporischschja beschossen, zweimal an einem Tag.« Er warf Russland Nuklearterrorismus vor und forderte eine Ausweitung der Sanktionen auf die russische Atomindustrie. Einem Land, das Nuklearterrorismus verübe, müsse die Fähigkeit abgesprochen werden, Atomanlagen zu betreiben.

Insgesamt zählte man von März bis Juli vier militärische Auseinander­setzungen im oder am AKW Saporischschja, dem nominell größten Atomkraftwerk Europas.

Bei den Vorfällen in den Wochen zuvor war die Darstellung des Geschehens weniger umstritten. Am 22. Juli gab der Militärgeheimdienst der ukrainischen Streitkräfte bekannt, eine russische Stellung auf dem Gelände des AKW Saporischschja angegriffen zu haben. Zur Dokumentation stellte das Verteidigungsministerium in Kiew einen Videoclip ins Netz. In der offiziellen Beschreibung dazu hieß es, eine »Kamikaze-Drohne wurde eingesetzt, um die feindliche Stellung und deren Ausrüstung zu treffen«, drei Menschen seien getötet und zwölf verletzt worden; das Lager sei durch »ein Feuer zerstört« worden, »das lange Zeit nicht gelöscht werden konnte«.

Dass der Clip keine Fälschung ist, bestätigte das Portal der staatlichen ukra­inischen Nachrichtenagentur Ukrinform mit einer Meldung vom 23. Juli. Die Agentur meldete ergänzend, die Russen hätten 500 Soldaten auf dem Gelände des AKW stationiert und im Untergeschoss eines Ausbildungszentrums ein Waffenlager eingerichtet.

In den Tagen vor und nach dem Ereignis gab es einige Nachrichten, die damit zusammenhängen könnten. So behauptete die Welt am 16. Juli, die Städte Nikopol und Dnipro seien von Raketen getroffen worden, die vom AKW Saporischschja aus abgefeuert worden seien. Allerdings handele es sich nur um eine Vermutung der ukrainischen Seite, räumte die Welt-Reporterin ein.

Am 1. August wartete die New York Times mit einer großen Reportage über Nikopol auf. Blickt man von dort aus über den Dnipro, sind die Silhouetten der sechs Reaktoren des AKW und seine beiden Kühltürme gut zu erkennen. Der Bürgermeister von Nikopol sagte der NYT, russisches Militär habe sich mit voller Absicht im Atomkraftwerk verschanzt, »damit sie nicht getroffen werden können«. Die Russen feuerten Raketen über den Fluss nach Nikopol und auf andere Ziele, aber die Ukraine könne den Beschuss »mit ihren von Amerika erhaltenen fortschrittlichen Raketensystemen« nicht erwidern, ohne zu riskieren, das Atomkraftwerk oder sein Atommülllager zu treffen. »Und Russland weiß das.«

Einwohner Nikopols fürchteten, so die NYT, nicht nur die russische Artillerie; sie seien auch in großer Sorge, dass die eigenen Leute ein Leck in das AKW schießen, das Atommülllager oder, noch gefährlicher, die kaum gesicherten Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente treffen.

Insgesamt zählte man von März bis Juli vier militärische Auseinandersetzungen im oder am AKW Saporischschja, dem nominell größten Atomkraftwerk Europas. Zivile Atomkraftwerke sind in einem Krieg ein Teil der nukle­aren Abschreckung. Anders als Atombomben schrecken sie allerdings weniger den Gegner ab als den Besitzer, auf dessen Territorium die Anlagen errichtet wurden. Auf dem Gemeindegebiet von Enerhodar, dem Standort des AKW, führt die Front derzeit direkt an der Nuklearanlage vorbei; das müsste eigentlich beide Seiten abschrecken.

Noch am Tag des Drohnenangriffs gab Rafael Mariano Grossi, der General­direktor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), eine Stellungnahme heraus, sein 87. Update zur Situation in der Ukraine. Grossi rief zu größter Zurückhaltung auf, um einen Unfall zu vermeiden, der die öffentliche Gesundheit in der Ukraine und anderswo gefährden könnte. »Diese Berichte sind sehr beunruhigend und unterstreichen, wie wichtig es ist, dass die IAEO das Kernkraftwerk Saporischschja aufsucht«, sagte der Generaldirektor und fügte hinzu: »Es ist dringend.«

Da die IAEO die Anlage seit fünf Monaten nicht mehr besuchen konnte, sei sie nicht in der Lage, die jüngsten Berichte über das größte AKW des Landes zu bestätigen oder zu dementieren. Der unscheinbare Satz ist von einiger Bedeutung. Grossi würde nämlich keine Sekunde zögern, eine Nutzung des Kraftwerksgeländes als Basis für russische Raketen und Artillerie entschieden zu verurteilen. Aber er scheint von den entsprechenden Behauptungen noch nicht überzeugt zu sein.

Das unterscheidet ihn von US-Außenminister Antony Blinken, der sich kurz nach dem Erscheinen des NYT-Artikels den dort vorgebrachten Einschätzungen anschloss. Wie dem auch sei: In diesem Krieg wird vieles fotografiert, viele Menschen ergänzen die Arbeit der Kriegsreporter mit eigenen Handyaufnahmen. Ein Bild einer Rakete, die vom AKW kommend den Dnipro überfliegt, war bisher nicht dabei. Was es aber gibt, sind Aufnahmen einer beträchtlichen Zahl russischer Militärfahrzeuge auf dem Kraftwerksgelände, deutlich zu erkennen an ihrer weißen ­Z-Markierung.

Grossi schlug im März ein Abkommen über einen cordon sanitaire für Atomkraftwerke vor. Die Unterzeichner würden sich verpflichten, diese Anlagen im Kriegsfall nicht anzugreifen und ihren Betrieb nicht zu beeinträchtigen. Dazu hat er »sieben Säulen« definiert, auf denen ein sicherer Betrieb von Atomkraftwerken beruhe. Alle diese Regeln würden im AKW Saporisch­schja verletzt, erklärte der IAEO-Generaldirektor.

Sein Vorschlag fand bisher keinerlei Resonanz. Das liegt daran, dass die Regierungen der 175 Mitgliedsstaaten der IAEO zunächst auf die Reaktionen Russlands und der Ukraine warten. Doch der russische Präsident Wladimir Putin dürfte kaum daran interessiert sein, von seinen Truppen besetzte Nuklearan­lagen einer solchen Regulierung zu unterstellen, und Selenskyj befürchtet wohl, dass eine solche Vereinbarung ihm als Verzicht auf die AKW ausgelegt werden könnte. Der IAEO wäre Erfolg zu wünschen, aber derzeit spricht ­wenig dafür. Sie wird wohl weitere Warnungen veröffentlichen können, ohne Gehör zu finden.