Der Film »One of These Days« erzählt von einem erbarmungslosen Wettkampf

Hand aufs Metall

Bastian Günthers Film »One of These Days« dreht sich um einen Wettkampf. Der Hauptgewinn: ein brandneues Auto. Solche Wettkämpfe haben in den USA Tradition – genau wie das Auto als Metapher für Freiheit.

Nach 50 Stunden hatte es die 30jährige Dilini Jayasuriya geschafft und konnte die Schlüssel für einen brandneuen Kia Optima, Baujahr 2017, im Wert von damals 23 000 US-Dollar, entgegennehmen. Jayasuriya war die letzte verbliebene Teilnehmerin im Wettbewerb um den Mittelklassewagen und hatte anders als ihre 19 Konkurrenten und Konkurrentinnen geschafft, woran alle anderen gescheitert waren. Denn um den Kia mit nach Hause zu nehmen, hatten die Organisatoren sich eine ganz besondere Herausforderung – oder wie es in der Welt von Tiktok und Instagram heißt, Challenge – ausgedacht: Um zu gewinnen, musste man das Auto 50 Stunden lang küssen (immerhin nur wenige Stunden weniger, als der längste Kuss zwischen Menschen, der dem Guinness-Buch der Rekorde zufolge gut 58 Stunden gedauert hatte). Zwar konnten sich die Küssenden während des Wettbewerbs bewegen, durften sogar husten und sich beschäftigen – einige schauten Net­flix, andere hörten Musik –, und zu jeder vollen Stunde gab es eine zehnminütige Pause, sonst aber mussten ihre Lippen die ganze Zeit am anthrazitfarbenen Blech des Wagens kleben.

Behutsam und ohne Hektik, eingehüllt in einen sanften Pastellschleier und untermalt von dem sphärischen Soundtrack von The Notwist, folgt »One of These Days« dem Wettbewerb bis zu seinem unerwarteten – auf realen Ereignissen beruhendem – Ende.

Das Spektakel, das 2017 in Austin, Texas, stattfand, ist ein spätes Echo jener Wettbewerbe, die vor allem in den neunziger Jahren gang und gäbe waren, vor allem in den USA (aber längst nicht nur da), und heutzutage, man denke an die »Challenges« des Youtubers Mr. Beast, wieder en vogue sind. Zu gewinnen gab es meist ein Auto, statt geküsst wurde nur die Hand auf das Auto gelegt. Dass bei dem erwähnten Ereignis in Texas das Moment der Berührung zum Küssen gesteigert wurde, hebt die zugleich sexuelle wie religiöse Bedeutungsdimension, die bereits dem Handauflegen eignet, nur noch stärker hervor. Größere Bekanntheit erreichten diese Events durch die Dokumentation »Hands on a Hardbody« (1997, Regie: S. R. Bindler), die den Ausdauerwettbewerb eines ­Nissan-Autohändlers in Longview, Texas, begleitet. Damals konnte der Sieger nach gut 78 Stunden in den Wagen einsteigen.

Aus diesem Stoff – und zum Teil sehr nah an den Details der Dokumentation – hat der deutsche Regisseur Bastian Günther einen Spielfilm gemacht (ein Vorhaben, das kurz vor seinem Tod 2006 auch Robert Altman hatte; Sydney Pollack hatte ein ähnliches Sujet, die gnadenlosen Tanzwettbewerbe der Depressionszeit, 1969 verfilmt: »Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss«). »One of These Days« feierte bereits 2020 auf der Berlinale Premiere, wegen der Covid-19-Pandemie wurde der Kinostart jedoch verschoben.

Angesiedelt in der Gegenwart, in einer Kleinstadt irgendwo in den südlichen Bundesstaaten der USA (gedreht wurde in Louisiana), zwischen Feldern, Wäldern, weitläufig gebauten Vorstadtsiedlungen und großen Supermarktparkplätzen, veranstaltet ein Autohändler einen Ausdauerwettbewerb unter dem Titel »Hands-on«, als Preis winkt ein fabrikneuer, blauer Pickup-Truck. Aus den Bewerbungen ausgewählt wird eine, betont als »Querschnitt« der Gesellschaft jenseits der beiden Küsten vorgestellte Gruppe: der junge, in einem miesen Job arbeitende Familienvater Kyle Parson (Joe Cole), außerdem ein ehemaliger Soldat, Frauen und Männer unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Hautfarbe, Aufschneider, Rentner und peinlich infantile Jungerwachsene. Begleitet wird das Ereignis von der Organisatorin Joan Dempsey, gespielt von Carrie Preston, die bereits in der Serie »True Blood« einen bestimmten Typus der Südstaaten-Lady herausragend verkörpert hat.

Behutsam und ohne Hektik, eingehüllt in einen sanften Pastellschleier und untermalt von dem sphärischen Soundtrack von The Notwist, folgt der Film dem Wettbewerb, seinem unerwarteten – auf realen Ereignissen beruhendem – Ende und blickt zurück in die Vorgeschichte des Protagonisten Kyle. Dessen Präsenz weicht immer wieder zugunsten der Nebenfiguren; Kyle wird erst nach und nach zur tragischen Hauptfigur von »One of These Days«. Tag und Nacht, bei sengender Sonne und strömenden Regen, stehen die Teilnehmer in einheitlichen gelben T-Shirts unter einem Plastikzelt an dem blauen Pickup, um sie herum Schaulustige, es wird gefeiert, getrunken und angefeuert, bis die körperliche und geistige Anstrengung nach und nach ihren Tribut fordert.

Natürlich ist das Setting des Ausdauerwettbewerbs geradezu prädestiniert dafür, als Metapher für eine Gesellschaft verstanden zu werden, in der das Durchkommen und Überleben an die leibliche und psychische Substanz geht. Denn es ist weniger eine Frage der Standfestigkeit, die über den Sieg entscheidet, sondern ob es gelingt, bei Verstand zu bleiben, was sowohl die Dokumentation als auch der Film eindrücklich erzählen. Nach und nach verfallen die Beteiligten, allen voran Kyle, in geradezu wahnhafte Zustände, beginnen, hysterisch zu lachen, wiegen sich im Rhythmus von Liedern, die nur sie hören. Einer verlässt nicht mal in den Pausen den Wagen und uriniert in einen am Fuß befestigten Beutel, eine andere vertraut auf Gott, lässt ihre Glaubensbrüder und -schwestern für sich beten und liest in den zähen Stunden die Bibel. Wie bei einer Prozession, die Hände über das Metall gleitend, kreist die Gruppe um den Pickup herum.

Anders als die Dokumentation »Hands on a Hardbody«, die Konkurrenz zwar nicht verschweigt und ihre Teilnehmer freimütig über das »menschliche Drama« sprechen lässt, das der Wettbewerb auslöse, aber ansonsten geradezu freundlich die Verbundenheit mit den anderen Teilnehmern in den Vordergrund rückt, betont Bastian Günther die alsbald aufbrechende Missgunst und das Ressentiment – bis hin zur dramatischen Zuspitzung. In dieser Verschiebung reflektiert der Film den ökonomischen Niedergang von Teilen der US-Bevölkerung seit den neun­ziger Jahren. Bereits damals, so erfährt man in der Dokumentation von 1997, ging es manchen Teilnehmern weniger um das Auto an sich als um die Kreditkartenrechnung, die sich nach dem Verkauf des Wagens bezahlen lässt. Und dennoch hatte das Versprechen von Wohlstand noch ein wenig mehr Kraft als in der Wirklichkeit des Spielfilms; in der Dokumentation schenkte der Gewinner den Wagen seiner Frau.

Tatsächlich lässt sich »One of These Days« auch als Erinnerung an die geradezu sakrale Aura und lebensweltliche Bedeutung des Automobils in den Vereinigten Staaten verstehen. Steht das Einfamilienhaus im US-amerikanischen Gedächtnis für das Ankommen und die im eigenen Landbesitz gründende Souveränität, symbolisiert das Auto (und davor die Eisenbahn) die Freiheit des jederzeit Weiterziehenkönnens, ist es doch notwendig, um die Weite des Landes überhaupt erst zu erschließen. In zahllosen Roadmovies oder Romanen wie John Steinbecks »Die Reise mit Charley: Auf der Suche nach Amerika« (1962) ist diese Automythologie festgehalten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Auto zum Sinnbild des durch die Fließbänder Henry Fords erwirtschafteten relativen Wohlstands für die Massen, von dem die US-amerikanische Kultur auch heute noch zehrt. Auch für den Protagonisten Kyle ist der Pickup-Truck – nicht zufällig ein eher männlich konnotierter Wagentyp – mehr als ein Gebrauchsgegenstand. Allerdings steht er nicht mehr für Freiheit oder wenigstens das Streben nach ihr, sondern für eine Schrumpfform von vor allem ökonomischer und familiärer Sicherheit, die allenfalls verheißt, einmal zu den Gewinnern zu zählen.

Einerseits lebt »One of These Days« vom metaphorischen Reichtum seines Gegenstands, andererseits scheinen einzelne Szenen – beispielsweise als eine Teilnehmerin sich in Erschöpfung auf ihre Bibel erbricht – doch allzu offensichtlich und eindimensional sozialkritisch intendiert zu sein. Der Film gewinnt besonders an den Stellen, an denen er sich von der Wettbewerbsszenerie wegbewegt, dort, wo er ins geradezu Phantastische hinüberspielt – man denke an den überraschenden »Auftritt« des Singer-Songwriters Bill Callahan – oder wenn er die alleinstehende Organisatorin Joan in den Mittelpunkt rückt, die vor allem ­unter der mühevoll verdrängten Abwesenheit ihrer Tochter leidet und sich um ihre senile Mutter kümmert. In Joans durch eine Sonnenbrille nur zu erahnenden Blick, während der Wagen durch eine Waschanlage fährt, die Hand sanft über schaumbedeckte Fenster streicht und ein kurzes Lächeln aufblitzt, das sich über eine Ferne jenseits der Leinwand erstreckt, steckt die stille Trauer und Melancholie des ganzen Films.

One of These Days (D 2020). Buch und ­Regie: Bastian Günther. Darsteller: Joe Cole, Carrie Preston, Callie Hernandez. Filmstart: 19. Mai