Exploitation oder Exodus
Seit Russlands Angriff auf die Ukraine kriselt die Wirtschaft des Landes. Zahlreiche internationale Firmen haben sich vom russischen Markt zurückgezogen und Hunderttausende gut ausgebildete Menschen haben das Land wegen der Folgen der wirtschaftlichen Sanktionen oder der politischen Repression verlassen. Doch auch Millionen an Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan, die in den vergangenen 30 Jahren zu einer wichtigen Quelle billiger Arbeitskraft für die russische Dienstleistungs- und Landwirtschaft sowie den Bausektor geworden sind, sind von der drohenden Rezession betroffen. Auch wenn es kaum verlässliche Statistiken gibt, arbeiten schätzungsweise eine Million kirgisische, mindestens ebenso viele tadschikische und über drei Millionen usbekische Migrantinnen und Migranten in Russland. Einkünfte, die diese an ihre Familien zu Hause überweisen, sind eine wichtige Stütze für deren verarmte Herkunftsländer. Das Bruttoinlandsprodukt Kirgistans und Tadschikistans besteht zu rund 30 Prozent aus solchen Rücküberweisungen, mit die höchsten Quoten weltweit. Die russische Krise ist damit auch die ihrige.
»In Russland verschwinden die Arbeitsplätze, es wird gesagt, dass es ab jetzt nur noch für Russen Arbeit geben wird.« Atai Omursakow, ehemaliger Arbeitsmigrant aus Kirgistan
»In Russland verschwinden die Arbeitsplätze, es wird gesagt, dass es ab jetzt nur noch für Russen Arbeit geben wird«, erzählt Atai Omursakow. Er ist vor kurzem aus Moskau zurückgekehrt, wo er mehrere Monate lang in der Restaurantbranche gearbeitet hatte. Nun sitzt er in seinem Lieblingscafé in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek. Seine Geschichte gleicht der unzähliger seiner Landsleute. Als er das erste Mal nach Russland gefahren sei, sei er 18 Jahre alt und gerade mit der Schule fertig gewesen, sagt Omursakow. Sein Vater habe einst relativ gut bezahlte Arbeit in einem kirgisischen Bergwerk gehabt, doch der Staub habe bei ihm Atemwegsbeschwerden verursacht und er habe seine Stelle aufgeben müssen. Als ältester Sohn sei Omursakow nach Russland gegangen, um die Familie weiter zu versorgen. »Ich arbeitete in einer Küche, sechs Tage die Woche, 13 Stunden am Tag, plus eine Stunde in der Metro hin und zurück. Wie eine Maus im Laufrad«, sagt er und wedelt mit der Hand. Die Schichten seien oft so stressig gewesen, dass für die Mittagspause keine Zeit geblieben sei. Wenn er abends endlich zum Essen gekommen sei, habe er oft Bauchschmerzen gehabt.
Unter solchen Bedingungen arbeitet der Großteil der zentralasiatischen Migrantinnen und Migranten in Russland. Um Miete zu sparen, wohnen viele beengt. Omursakow selbst habe ein Zimmer mit drei Landsleuten geteilt. Gewalttätige russische Nationalisten und ständige Polizeikontrollen bereiten zusätzliche Probleme. Doch aufgrund der Arbeitslosigkeit und der niedrigen Löhnen in Kirgistan gibt es dort kaum eine Familie, die keine zeitweise in Russland arbeitenden Angehörigen hat.
Ob die zentralasiatischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten wie während vergangener Krisen in ihre Länder zurückkehren werden, wird sich zeigen. »Während der Pandemie verließen viele Russland. Die Zahl der Arbeitsmigranten hier hat erst kürzlich wieder das Niveau von vor der Pandemie erreicht«, sagt Sergej Abaschin; er ist Anthropologieprofessor an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg und verfolgt seit Jahren die Entwicklung der zentralasiatischen Arbeitsmigration nach Russland: »Jetzt haben wir erneut eine Reihe wirtschaftlicher Faktoren, etwa Einschränkungen im Devisenverkehr, Unternehmensschließungen und Inflation, die theoretisch eine ähnliche Rückkehrwelle hervorrufen sollten.« Auch wenn die Zahl der Rückkehrenden in jüngster Zeit etwas gestiegen sei, wie die russische Tageszeitung Kommersant Anfang April berichtete, ist es bisher noch zu keinem Massenexodus gekommen. Eine solche Entwicklung lässt sich allerdings nicht ausschließen. »Wir befinden uns erst am Anfang dieses Prozesses. Bisher warten die Menschen noch ab. Welche Ausmaße das Ganze annimmt, wird sich erst in ein paar Monaten abzeichnen«, meint Abaschin.
Manche jedoch konnten nicht warten. Chan, der seinen Nachnamen nicht nennen will, arbeitete bis vor kurzem in einem Moskauer Café, unter ähnlichen Bedingungen wie Omursakow. Sein rechtlicher Status war allerdings ein anderer. Wie Zehntausende andere Kirgisinnen und Kirgisen in Russland hatte er die bürokratischen Scherereien, die man als Ausländer hat, satt und nahm vor einigen Jahren die russische Staatsangehörigkeit an. Damit konnte er nun zum Militär eingezogen werden. »Ich kenne mehrere, die einberufen wurden. Einer von ihnen bekam eine Kugel in die Brust, ein anderer ins Bein. Ich wollte es nicht riskieren, an die Front geschickt zu werden, und verließ deshalb Ende März das Land«, erzählt er in Bischkek. Auch die Zustände auf dem Arbeitsmarkt hatten sich zu dem Zeitpunkt schon merklich verschlechtert. »Nachdem internationale Firmen wie McDonald’s das Land verlassen hatten, kamen deren Angestellte zu uns, um Arbeit zu finden, und wurden als Praktikanten eingestellt. Es gab einfach wahnsinnig viele, die Arbeit brauchten, und eine Woche später verdiente ich plötzlich nur noch halb so viel wie vorher«, sagt Chan.
Der Krieg hat die Arbeitsmigration nach Russland weniger lukrativ gemacht hat, doch die in Russland Arbeitenden haben meist keine Alternative. »Zurückzukehren löst nicht das Problem, keine Arbeit zu haben. Das geht höchstens vorübergehend«, sagt die kirgisische Politikwissenschaftlerin Asel Doolotkeldiewa. Sie hält eine große Rückkehrwelle für eher unwahrscheinlich. Ihrer Meinung nach könnte sogar eine entgegengesetzte Tendenz eintreten, da Familien versuchen könnten, geringere Einkünfte zu kompensieren, indem weitere Angehörige zum Arbeiten nach Russland fahren. Das Hauptproblem ist Doolotkeldiewa zufolge, dass die Rücküberweisungen nach Kirgistan in Zukunft stark schrumpfen dürften. »Etwa 70 Prozent des überwiesenen Geldes wird für den Einkauf von Lebensmitteln ausgegeben«, sagt sie. Es zeige sich ein enger Zusammenhang zwischen dem Ausbleiben der Geldtransfers und der Verschlimmerung von Armut. »Während der Pandemie wurde das offensichtlich, als der Rückgang der Überweisungen den Kampf gegen die Armut um zehn Jahren zurückwarf.«
Russland ist das wichtigste Zielland für kirgisische Arbeitsmigrantinnen und -migranten, jede Krise dort hat verheerende Folgen für die Ärmsten in Kirgistan. Was Doolotkeldiewa am meisten Sorgen bereitet, ist, dass die kirgisische Regierung das Problem nicht ernst nehme; sie betrachte die Arbeitsmigration nach Russland als einen praktischen Ausweg, um die sozialen Probleme im Land nicht selbst angehen zu müssen. »Es ist unglaublich, die reden nicht mal groß drüber. Jedes Jahr mahnen Organisationen, die sich mit der Migrationsfrage beschäftigen, dass wir zumindest die Zielländer unserer Migrationsströme diversifizieren sollten. Und jedes Jahr antwortet die Regierung ‚ja, ja‘ und vergisst es sofort wieder«, sagt sie frustriert.
Ajimdschan Imanaliewa kennt dieses Problem genau. Sie arbeitet in einer NGO, die Arbeitsmigranten mit Informationen und juristischem Rat beisteht, und hat kürzlich an einem runden Tisch zum Thema alternative Zielländer teilgenommen, dem auch der stellvertretende kirgisische Arbeitsminister beiwohnte. Große Hoffnung habe die Veranstaltung bei ihr nicht hinterlassen, sagt sie. Kirgistan habe zwar offizielle Abkommen mit einer Reihe von Ländern wie Südkorea und einigen EU-Staaten, eine schnelle Lösung böten diese jedoch nicht. »Diese Alternativen versprechen ordentliche, legale Arbeit, aber es geht dabei nur um etwa 10 000 Stellen pro Jahr, was angesichts der einen Million in Russland Arbeitender so gut wie gar nichts ist«, so Imanaliewa. »Vertreter von Agenturen, die Visa und Jobs in der EU anbieten, haben außerdem erklärt, dass deren Anzahl dieses Jahr gesenkt wurde, was wohl mit der großen Zahl ukrainischer Flüchtlinge dort zu tun hat«, sagt sie.
Omursakow, Chan und andere Kirgisen, die sie kennen, hoffen, trotzdem Arbeit im Ausland zu finden. Chan und einige Freunde, mit denen er sich sein Moskauer Zimmer geteilt habe, planten, in die Türkei oder nach Dubai zu fahren, erzählt er. Chans Vater ziehe es noch weiter. »Er spricht davon, nach Mexiko zu fliegen, um von dort die US-Grenze zu überqueren. Aber das ist teuer und riskant«, sagt Chan besorgt.