Der Linkspopulismus kann in Deutschland keine Erfolge erzielen

Das Prekariat ist fragmentiert

In verschiedenen Ländern Europas und den USA erzielten linkspopulistische Politiker in den vergangenen Jahren Erfolge, nicht jedoch in Deutschland. Das Prekariat des europäischen Krisenprofiteurs ist gespalten und führt Abwehrkämpfe untereinander.

Nach Bernie Sanders in den USA, Jeremy Corbyn in Großbritannien, Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland trat Sahra Wagenknecht 2018 an, mit ihrer sogenannten Sammlungsbewegung »Aufstehen« den linkspopulistischen Trend auch nach Deutschland zu holen. Doch befanden den Versuch zwar die Medien, nicht aber andere linke Parteien oder eine ausreichend große Menge an Unterstützern für relevant. Damals arbeitete Wagenknecht auf ein parteiübergreifendes Bündnis zwischen SPD, »Die Linke« und Grünen hin, an dem sich auch Politiker aus allen diesen Parteien beteiligten. Aus heutiger Sicht erscheint das fast kurios. Unter Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich die SPD nach rechts orientiert und die Linkspartei scheint sich seit der für sie enttäuschenden jüngsten Bundestagswahl selbst zu zerfleischen. ­Wagenknechts Vorstoß wurde von den Parteigremien von Linkspartei und SPD rigoros abgelehnt und institutionell ausgegrenzt. Auch deswegen blieb »Aufstehen« letztendlich nur eine weitere der Linkspartei nahestehende Gruppierung mit lediglich einzelnen Mitstreitern aus anderen Parteien.

In Deutschland haben Sozialstaat, Zivilgesellschaft und Ausbildungs­system ein feines Netz von Hierarchien und Abgrenzungen gewoben.

Linken Parteien in Deutschland hat der Linkspopulismus ohnehin wenig zu bieten. Keine andere Partei ist hierzulande so gut in der Zivilgesellschaft vernetzt wie die SPD. Sie ist verankert in Gewerkschaften und Kirchen, im ­öffentlichen Rundfunk und in den Sozialverbänden, in Sport-, Kleingarten- und Gesangsvereinen. Sie ist die Partei der Lehrer, Beamten und Angestellten bei Stadt und Verwaltung. Wieso hätte sie sich einer diffusen selbsternannten Bewegung, die auf die Zugkraft vermeintlich charismatischer Führungsfiguren hofft und ein letztlich weitgehend desinteressiertes Publikum zu Demonstrationen und Protestaktionen aufruft, anschließen und gar unterordnen sollen?

»Die Linke« wiederum orientierte sich spätestens seit der Bundestagswahl 2013 hin zu einer rot-rot-grünen Koalition und passte sich dabei den ­institutionellen Gepflogenheiten der SPD an: Man verlegte sich auf gemeinsame Historikertagungen, traf sich auf kommunaler Ebene zum Austausch, Nachwuchspolitiker beider Parteien sondierten informell in Berliner Restaurants.

Der Linkspopulismus in Deutschland scheitert jedoch nicht nur an Gründen des Parteiensystems. Er basiert darauf, große Bevölkerungsgruppen unter wenigen griffigen Parolen wie der Forderung nach »sozialer Gerechtigkeit« zu versammeln. Den Erfolg brachte nicht die rhetorische Magie eines Bernie Sanders oder eines Jeremy Corbyn – beide sind eher langweilige und be­häbige Redner –, sondern eine gemeinsame Klassenlage der angesprochenen Bevölkerungsgruppen: Akademiker treten in den USA und in Groß­britannien häufig durch Studienkredite hochverschuldet ins Berufsleben ein, die Wahrscheinlichkeit, dass sie es beruflich nicht packen und im Prekariat landen, ist viel höher als in Deutschland.

In Spanien, Italien, Griechenland, selbst in Frankreich haben die Finanz- und die Euro-Krise seit 2008 eine ganze Generation von gut ausgebildeten jungen Leuten hervorgebracht, die ohne angemessene berufliche Per­spektive dasteht. Die Jugend- und Akademikerarbeitslosigkeit in diesen Ländern ist immens, Erstere lag Anfang 2022 in Spanien mit 29,6 Prozent teils weit über dem EU-Durchschnitt von 17,2 Prozent. Selbst Frankreichs Jugendarbeitslosigkeit liegt mit 16,3 Prozent zwar unter dem EU-Durchschnitt, ist aber mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Die Intelligenzija ist in ganz West- und Südeuropa, erst recht in den USA, viel stärker der Bedrohung des sozialen Abstiegs ausgesetzt als in Deutschland.

Kulturell, von ihrem Geschmack, ihrer Ausbildung und ihrem Wissen her, sind diese jungen Leuten weit entfernt vom Habitus der arbeitenden Landbevölkerung, der Einwanderer, der Kleinhändler und Leiharbeiter in den Fabriken. Sozial aber droht ihnen ein ähnliches Schicksal. Und die linkspopulistischen Politiker boten ihnen ein Bündnis mit »dem Volk« an. Die Form der offenen Bewegung, die ohne die starren Hierarchien einer Partei auskommt, erwies sich als passend.

Auf Deutschland ist diese Strategie nicht übertragbar, weil hier andere Verhältnisse herrschen. Zum einen war Deutschland im vergangenen Jahrzehnt der Gewinner aller Krisen in Europa und das gehassliebte Sehnsuchtsland der arbeitslosen Jugend, die aus Italien, Griechenland, Spanien und ganz Osteuropa kommend ihr Glück hierzulande suchte. Auf dem Arbeitsmarkt herrscht immer noch ein Mangel an Fachkräften.

Zum anderen schreitet die Akademisierung der Berufsfelder immer weiter voran. Mit der Akademisierung nimmt auch die Hierarchisierung in den Berufen zu. Akademiker können sich der Illusion hingeben, Erfolge bei Lohnverhandlungen hingen vom Ausbildungsgrad ab und ließen sich individuell beim vertrauensvollen Gespräch mit dem Chef erzielen. Sicher, es hat in Deutschland auch sozialen Protest von Intellektuellen gegeben – man denke an die Versuche unter dem Hashtag #IchBinHanna, auf die berufliche Benachteiligung von jungen Forschenden und Lehrenden aufmerksam zu machen. In der Öffentlichkeit wird das aber als Nischenprotest wahrgenommen.

In Deutschland haben unter tatkräftiger Mithilfe der Sozialdemokratie Sozialstaat, Zivilgesellschaft und Ausbildungssystem ein feines Netz von Hierarchien und Abgrenzungen gewoben: Gewerkschaften kämpfen für Stammbelegschaften, nicht für Leiharbeiter; Beschäftigte an Hochschulen für Festanstellung, nicht für gleiche Bildungschancen für alle; gestresste ­Eltern für die Einrichtung von mehr Kindertagesstätten, nicht für die For­derungen streikender Erzieherinnen.

Deshalb kann hierzulande der Linkspopulismus gerade kein Bündnis der Prekären und Proletarisierten anbieten. Diese sind in ihren sozialen Nischen voneinander isoliert, wo sie für sich kämpfen und partiell sogar Erfolg haben, den sie dann gegen andere ab­sichern wollen.

Dass sich die Situation in Deutschland dennoch nicht grundlegend von der in anderen Ländern unterscheidet, erkennt man daran, dass dort der Linkspopulismus seinen Zenit bereits überschritten hat. Auf Dauer konnten sich weder Corbyn in der Labour Party noch Sanders bei den Demokraten durchsetzen, die linkspopulistische Partei Podemos in Spanien zerfällt, und in Frankreich ist Jean-Luc Mélenchons linkes Wahlbündnis aus purer Verzweiflung geboren.

Selbst in ihrer größten Krise kann die SPD sich auf ihre Verankerung in der Zivilgesellschaft verlassen: Sie korrigiert dort die Verhältnisse, die ein­zurichten und zu zementieren sie geholfen hat. Als parlamentarisch legitimierte Partei, die auf Regierungsbeteiligung hinarbeitet, hat »Die Linke« sich an dieses System gekettet. Versuche, es durch die Inszenierung einer populistischen Bewegung wie »Aufstehen« zu unterlaufen, haben dieses System nur gestärkt, indem sie keine tatsächliche Alternative, sondern lediglich eine Negativfolie anbot, von der sich offizielle Parteilinie bequem ab­heben konnte. Dies hat den Zerfall der linken Sozialdemokratie jenseits der SPD beschleunigt.