Berichte über mutmaßliche ­sexuelle Grenzüberschreitungen erschüttern die Linkspartei

Linker Klüngel

In der Linkspartei ist mit weiteren Konflikten um Sexismus und mutmaßlichen Machtmissbrauch zu rechnen. Nach dem Rücktritt ihrer Co-Vorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow will Janine Wissler die Partei vorerst alleine führen. Im Juni soll der gesamte Vorstand neu gewählt werden.

Gute Nachrichten für die Linkspartei lassen weiter auf sich warten. Miese Umfragewerte für die im kommenden Monat anstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, zermürbende Debatten über den richtigen Umgang mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine – und nun ist Mitte vergangener Woche auch noch eine der beiden Parteivorsitzenden zurückgetreten. Susanne Hennig-Wellsow begründete ihren Rücktritt in einer öffentlichen Erklärung damit, dass die dringend notwendige Erneuerung der Partei nicht so gelungen sei, wie sie es bei ihrem Amtsantritt vor etwas mehr als einem Jahr gehofft hatte. Auch gebe es private Gründe.

Ferner nannte sie den »Umgang mit Sexismus in den eigenen Reihen«. Konkreter wurde Hennig-Wellsow in ihrer Mitteilung nicht. Einige Tage zuvor war im Spiegel ein Artikel erschienen, dem zufolge es Hinweise auf »mutmaßliche Grenzüberschreitungen, Machtmissbrauch und eine toxische Machokultur« vor allem im hessischen Landesverband gebe. Indirekt betrafen die Vorwürfe auch Hennig-Wellsows Co-Vorsitzende Janine Wissler, die in dem fraglichen Zeitraum eine führende Rolle in der hessischen Linkspartei innehatte.

Ein von zahlreichen Linksjugend-Verbänden unterzeichneter Brief fordert den »Rücktritt aller betei­ligten Personen, die selbst Täter sind oder die von den Taten wuss­ten und diese gedeckt haben«.

Der Spiegel beruft sich auf Chatprotokolle, E-Mails, Fotos und eidesstatt­liche Versicherungen sowie die Aussagen von zehn Frauen und Männern. Eine junge Frau aus dem Kreisverband Wiesbaden beispielsweise sagte dem Spiegel, ein über 20 Jahre älterer Mitarbeiter der Linkspartei habe eine Beziehung mit ihr begonnen, als sie 17 Jahre alt war. Er soll sie unter anderem beim Sex gefilmt haben, als sie noch minderjährig war. Dem Spiegel sagte der Mann, die Darstellung der jungen Frau sei »falsch«.

Die Beziehung der beiden soll 2018 begonnen haben. Der Mann war damals, so heißt es im Spiegel, Bundestagskandidat und Mitglied im hessischen Landesvorstand der Linkspartei – und er soll der Partner der heutigen Parteivorsitzenden Janine Wissler gewesen sein, die damals Fraktionsvorsitzende in Hessen war. Später, als die junge Frau die Beziehung schon abgebrochen hatte, sei er nachts unangekündigt über ihren Balkon in ihre Wohnung gestiegen, heißt es in dem Artikel unter Berufung auf die junge Frau. Der Spiegel zitierte eine E-Mail, die die junge Frau in jener Zeit an Wissler schickte: »Entschuldige das hier bitte, Janine, aber ich drehe endgültig durch, wenn Adrian nochmal nachts auf meinem Balkon steht und das romantisch nennt.« Die junge Frau hatte ihn später wegen Körperverletzung, Nötigung und Beleidigung angezeigt, doch die Ermittlungen wurden eingestellt. Dem Spiegel sagte der Mann, ihre Anschuldigungen »entbehren jeder Grundlage«.

Janine Wissler veröffentlichte nach Erscheinen des Artikels ein Schreiben, in dem sie »die Vorwürfe des Spiegels der Untätigkeit und Mitwisserschaft« zurückweist. Sie habe erst Ende vergangenen Jahres von den konkreten Vorwürfen gegen ihren ehemaligen Partner erfahren. Der große Altersunterschied habe ihr zwar vorher schon Sorgen bereitet, doch die junge Frau habe nie ­darüber gesprochen, dass das Verhältnis nicht konsensual gewesen sei und Wissler nie »um Hilfe gebeten«. Wissler selbst sei durch das Verhältnis ihres damaligen Partners »zutiefst verletzt« ­gewesen und habe »nicht den geringsten Anlass, meinen ehemaligen Partner nach alledem zu schützen«.

Der Spiegel berichtete noch von anderen mutmaßlichen Fällen sexuellen Missbrauchs. Ein junger Mann, der die Partei inzwischen verlassen hat, erzählt von einem 54 Jahre alten Bundestagsabgeordneten, der ihn am Oberschenkel und im Schritt berührt haben soll. Der Bundestagsabgeordnete und eine weitere Zeugin haben dem Spiegel zufolge dieser Darstellung widersprochen. Als der junge Mann später einem Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstands in Hessen von dem Vorfall erzählt habe, soll dieses geantwortet haben: »Lass es, es schadet der Partei, und es schadet dir. Du wirst dort nichts, wenn du darüber sprichst.«

Auf Twitter trendete zeitweilig der Hashtag #LinkeMeToo. Ein von über 500 Linksjugend-Verbänden und Einzelpersonen unterzeichneter Brief mit dem Titel »Aktion für eine feministische Linke« fordert den »Rücktritt aller beteiligten Personen, die selbst Täter sind oder die von den Taten wussten und diese gedeckt haben«. Das Vertrauen in die Strukturen der Partei sei »zerrüttet«, heißt es weiter. Die im Spiegel-Artikel geschilderten Zustände hätten »nur durch Klüngel und Män­nerbünde aufgebaut und erhalten« werden können.

Sarah Dubiel, eine der Bundessprecherinnen der Linksjugend, rief nach Erscheinen des Artikels auf Twitter dazu auf, sie oder ihren Co-Sprecher Jakob Hammes zu kontaktieren, »wenn jemand in der Linksjugend oder auch als Linksjugend-Mitglied betroffen von ­sexualisierter Gewalt/Sexismus/übergriffigem Verhalten ist«. Innerhalb einer Woche sollen sich bereits 20 weitere Linksjugend-Mitglieder aus der ganzen Republik gemeldet haben, sagte Jakob Hammes dem Tagesspiegel.

Bei einem Treffen am Mittwoch vergangener Woche – nach Hennig-Wellsows Rücktritt – hat sich der Parteiverstand zu den Vorwürfen geäußert. In dem Beschlusstext heißt es, »wir bedauern die sexuellen Übergriffe in unserer Partei zutiefst und entschuldigen uns bei den Opfern«. Es tue dem Vorstand leid, »dass wir nicht früher darauf reagiert haben«. Man verspreche »transparente und vorbehaltlose Aufklärung« und eine Reihe von Maßnahmen, um Vorfälle dieser Art in Zukunft zu verhindern. Unter anderem sollen neue Möglichkeiten geschaffen werden, gegen »Genossinnen und Genossen, die sich sexistisch verhalten«, vorläufige Parteiordnungsverfahren einzuleiten – auch »unterhalb des Ausschlusses und auch vor einem langwierigen schiedsgerichtlichen Verfahren«.

Ein Vertreter des hessischen Landesverbands teilte vergangene Woche mit, Janine Wissler treffe hinsichtlich der mutmaßlichen sexuellen Übergriffe keine Schuld. Wissler hatte nach Hennig-Wellsows Rücktritt mitgeteilt, sie wolle nun zunächst alleine den Vorsitz der Partei ausüben.

Beim Parteitag Ende Juni in Erfurt soll der komplette Parteivorstand neu gewählt werden. Ob Wissler dann erneut für den Posten der Co-Parteivorsitzenden kandidiert, ist noch unklar.

Inzwischen gibt es auch erste Rücktrittsforderungen an die beiden Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch. Die Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut schrieb auf Twitter, sie selbst sei »Betroffene von systematischem Mobbing und Sexismus in der Linksfraktion«. Es sei Zeit, dass »sich etwas än­dert am System Hufeisen unter der Führung von Dietmar Bartsch«. Mit dem »System Hufeisen« ist wohl das Bündnis gemeint, dass der als moderater Reformer geltende Bartsch mit dem Wagenknecht-Flügel schloss, um seit 2015 ­seine Position an der Fraktionsspitze zu sichern.

Marjana Schott, eine der stellvertretenden Landesvorsitzenden der Partei in Hessen, war unterdessen vergan­gene Woche zurück- und aus der Partei ausgetreten. Sie kritisierte den Umgang mit den Beschuldigten. Die Frankfurter Rundschau zitierte aus der Rücktrittserklärung Schotts, in der sie von einer »Schmutzkampagne« sprach. Es sei inakzeptabel, dass Anschuldigungen »nicht überprüft werden können und dürfen«. Auf Facebook hatte Schott außerdem angekündigt, die Linksjugend-Sprecherin Sarah Dubiel wegen Verleumdung anzeigen zu wollen. »Sarah spricht immer wieder von Täterschutz im hessischen Landesverband. Das ist Rufmord«, hieß es in dem Post weiter.

Dubiel sagte vorige Woche dem Magazin Zeit Campus, sie kenne in der Partei »keine Genossin, die noch nie sexistisch angegangen wurde«. Sie selbst fühle sich als junge Frau »oft nicht ernst genommen«. Sie fordert »eine lückenlose Aufklärung der Vorfälle, auch wenn das unangenehm ­werden kann«. Damit scheinen weitere Konflikte für die Partei programmiert.