21.04.2022
Der Betrieb osteuropäischer Nuklearanlagen ist von russischen Lieferungen abhängig

Brisante Luftfracht

Vor allem osteuropäische EU-Staaten sind für den Betrieb ihrer Nuklear­anlagen von Lieferungen aus Russland abhängig. Für diese gibt es sogar Ausnahmen von den Sanktionen.

Mehrere Sanktionspakete der Europäischen Union, der USA und Großbritanniens haben Russland bisher nicht beeindrucken können. Klar ist, dass Maßnahmen gegen Energieexporte das Land weit empfindlicher treffen würden als alles, was bisher beschlossen worden ist. Können Öl- und Kohleeinfuhren kurzfristig beendet werden? Lässt sich die Abhängigkeit von russischem Gas nicht schneller reduzieren, als von Regierungen und Großkonzernen behaupten? Diese Fragen werden intensiv diskutiert. Bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit findet dagegen das Nukleargeschäft. Dabei ist es alles andere als unbedeutend, zumal die Atomlobby unablässig eine Renaissance für ihre Branche fordert.

Der russische Staatskonzern Ros­atom, eine Holding, die aus einem Geflecht von Tochterfirmen mit zusammen zwölf Milliarden Euro Jahresumsatz besteht, ist weltweit wie kein zweiter Konzern am Neubau von Atomkraftwerken beteiligt. Der Gesamtwert seiner Auslandsprojekte beläuft sich Schätzungen zufolge auf 100 bis 200 Milliarden US-Dollar. Nach eigenen Angaben unterhält Rosatom Verträge mit 35 Staaten und ist derzeit im Bau von 30 Reaktoren involviert. Auch beim Handel mit Natururan und angereichertem Uran sowie mit radioaktiven Isotopen zu Forschungs- oder medizinischen Zwecken spielt Russland eine dominante Rolle.

In die EU haben die osteuropäischen Mitgliedsländer Atomreaktoren sowjetischer Bauart eingebracht, von denen 16 Meiler noch immer in Betrieb sind. Es handelt sich um zwei Reaktoren im AKW Kosloduj in Bulgarien, vier Reaktoren im AKW Dukovany sowie zwei weitere im AKW Temelín in Tschechien, vier Reaktoren im AKW Paks in Ungarn, zwei Reaktoren im AKW Bohunice sowie zwei weitere im AKW Mochovce in der Slowakei. Zwei Reaktoren sowjetischen Typs sind im AKW Loviisa in Finnland in Betrieb. Bei einem EU-Beitritt der Ukraine kämen 15 weitere Meiler hinzu, von denen sechs zum AKW Saporischschja gehören, das zurzeit von der russischen Armee besetzt ist.

Der Konzern Siemens war und ist maßgeblich daran beteiligt, die Rosatom-Anlagen so aus- und umzu­rüsten, dass sie den Sicherheits- und Betriebs­vorschriften der EU halbwegs entsprechen.


Doch es geht nicht nur um diese Altanlagen. In der Slowakei werden die Reaktoren Mochovce-3 und -4 nach jahrzehntelanger Einmottung derzeit zu Ende gebaut. Ungarn hat bei Rosatom zwei neue Reaktoren bestellt, den Vertrag haben Ministerpräsident Viktor Orbán und der russische Präsident Wladimir Putin 2014 unterzeichnet – unmittelbar nach der russischen Annexion der Krim und ohne vorherige Ausschreibung. Auch Finnland wollte für ein neues AKW in Hanhikivi bei Rosatom kaufen, will das Projekt aber angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine überprüfen. Orbán hingegen bleibt unbeirrt – er hat gerade die Wahl gewonnen.

Einen seiner wichtigsten Exporterfolge konnte Rosatom in der Türkei verbuchen. Dort errichtet das Unternehmen das Atomkraftwerk Akkuyu in der Nähe von Mersin mit einer geplanten Leistung von 4,8 Gigawatt. An drei Reaktoren wird bereits gebaut, der erste soll angeblich im kommenden Jahr in Betrieb gehen. Das Projekt macht deutlich, worin die Attraktivität Rosatoms für seine Kunden liegt: Eine türkische Firma, die sich zu 100 Prozent in russischem Eigentum befindet, baut die Anlage, ist deren Eigentümer und soll sie auch betreiben. Rosatom investiert angeblich 20 Milliarden US-Dollar, dem türkischen Staat entstehen keine Kosten. Rosatom soll auch die ab­gebrannten Brennelemente wieder zurücknehmen, an Plutonium würde es Russland dann nicht mangeln. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan riskiert anscheinend nichts – außer ­einer Verstrahlung der türkischen Südküste und einer Abhängigkeit von Russland.

Alle diese Reaktoren müssen mit russischen Brennelementen betrieben werden. Eine Ausnahme macht nur die Ukraine. Dort wurde in zwei Kraftwerken eine aufwendige und nicht ungefährliche Umstellung auf Brennelemente von Westinghouse vorgenommen. Das US-Unternehmen lässt diese im schwedischen Västerås herstellen, das angereicherte Uran kam bisher von der deutsch-niederländisch-britischen Urenco-Gruppe. Auch die Schweiz setzt in den AKW Beznau und Leibstadt Brennelemente von Ros­atom ein.

Die Empfänger dieser Lieferungen sind offenbar so wichtig, dass sie pro­blemlos Ausnahmen von den verhängten Sanktionen durchsetzen können. Da der übliche Transportweg per Zug durch die Ukraine wegen des Kriegs nicht ­genutzt werden kann, sind bereits mindestens drei Lieferungen per Luftfracht vorgenommen worden. Dazu wurden die Flugverbote für russische Fluggesellschaften kurzerhand aufgehoben. Noch interessanter ist die Frage, wie es überhaupt zu Genehmigungen für solche Flüge mit schwerer radioaktiver Beladung gekommen ist: War die Internationale Atomenergie-Organisation damit befasst? Die betroffenen Umweltbehörden? Die Flugsicherheit?

Wer nun glaubt, mit diesen vorwiegend osteuropäischen Besonderheiten habe die Bundesrepublik nichts zu tun, irrt sich. Der Konzern Siemens war und ist maßgeblich daran beteiligt, die ­Rosatom-Anlagen so aus- und umzurüsten, dass sie den Sicherheits- und ­Betriebsvorschriften der EU halbwegs entsprechen. Noch enger ist die Verbindung bei der Urananreicherung. Urenco betreibt in Gronau (Westfalen) eine Urananreicherungsanlage, die schätzungsweise 20 Prozent ihres Urans aus Russland bezieht und ihren Abfall (abgereichertes Uran) lange Zeit diskret in Sibirien entsorgt hat. Angeblich will das Unternehmen jetzt die Lieferungen »in beide Richtungen« stoppen.

Die Zusammenarbeit war bislang derart vertrauensvoll, dass die französische Framatome, der die Brennelementefabrik ANF in Lingen gehört, die Rosatom-Tochter TWEL an dieser Fabrik beteiligen wollte. Die Anti-AKW-Bürgerinitiativen des Emslands fordern vom deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck, ein Veto gegen das geplante Joint Venture einzulegen, doch der behauptet, der Antrag sei zurückgezogen worden.

Immerhin brachte eine fraktionsübergreifende Gruppe von Abgeordneten im Europaparlament Ende Februar eine Beschlussvorlage ein, um die Mitgliedsländer der EU aufzufordern, jeg­liche Zusammenarbeit mit Russland im Nu­klearbereich zu beenden. Anfang April wurde freilich nur beschlossen, dass »die Inanspruchnahme von Dienstleistungen von Rosatom schrittweise einzustellen« sei. Nichts deutet darauf hin, dass die EU-Kommission von ihrer historischen Fehlentscheidung abrücken könnte, die Atomenergie als »nachhaltig« in ihre Taxonomie aufzunehmen. Nun muss sie zur Kenntnis nehmen, dass es sich um eine Nachhaltigkeit von Putins Gnaden handelt.