Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Vujo Ilić über die Wahlen in Serbien

»Serbien ist eine Präsidialdemokratie mit autoritären Tendenzen«

Interview Von

Am 3. April fanden in Serbien Präsidentschafts-, Parlaments- und, unter anderem in Belgrad, Kommunalwahlen statt. Serbiens amtierender Präsident Aleksandar Vučić beziehungsweise das von seiner nationalkonservativen Serbischen Fortschrittspartei (Srpska Napredna Stranka, SNS) angeführte Parteienbündnis erhielten jeweils die meisten Stimmen. Mit Ihrer NGO CRTA haben Sie die Wahlen beobachtet. Wie war der Tag für Sie?

Es waren 23 intensive Stunden. Wir beobachten Stichproben von Wahllokalen. Während wir die Parlamentswahlen immer analysieren, haben wir dieses Mal auch die Belgrader Wahl einbezogen, weil ihr besonderes politisches Gewicht zukam.

Die SNS ist bekannt für allerlei Manipulationen vor dem und im Wahlprozess. Haben solche Praktiken die jüngsten Wahlen geprägt?

Die größte Bedrohung für den demokratischen Wahlprozess ist nicht der Wahltag, sondern der gesamte Vorlauf. In den ersten drei Wochen des Wahlkampfs nahmen Regierungsvertreterinnen und -vertreter 72 Prozent der Zeit in Anspruch, in der Medien über politische Akteure berichteten, vorher ­sogar 85 Prozent. Es ist ein höchst ungleiches Spiel, da die Regierungsparteien alle Instrumente, Geld und Macht in ihren Händen haben und klientelis­tische Netzwerke den gesamten Staat durchziehen. Der Wahltag selbst stellte nicht den Höhepunkt der Demokratie dar, aber es gab keinen systemischen Wahlbetrug, obwohl wir Unregelmäßigkeiten festgestellt haben, die die Inte­grität der Stimmabgabe in fünf Prozent der Wahllokale unterminierten.

»Es gibt keine politische Kraft in Serbien, die die Außenpolitik in
eine andere Richtung drängen könnte. Die Regierungspartei will alles zugleich und die Opposition genauso.«

Was waren das für Unregelmäßigkeiten?

Verletzung des Wahlgeheimnisses, Gruppenabstimmung, Wahlfälschung, auch wenn dies selten vorkam. Wir ­beobachteten auch Karussell-Abstimmungen, bei denen eine Person einen vorausgefüllten Stimmzettel erhält und einen unausgefüllten Stimmzettel aus dem Wahllokal herausbringen muss, der dann wiederum ausgefüllt wird. Menschen werden dafür bezahlt oder auf andere Weise bedroht oder genötigt. Wir sehen das bei jeder Wahl, aber Wahlen spiegeln im Wesentlichen den Willen der Wählenden wider, auch wenn wir hinterfragen, wie dieser Wille zustande kommt. Die Wahlen waren in dem Sinne frei, dass die Kandidatinnen und Kandidaten antreten können, nicht inhaftiert werden und die große Mehrheit der Wahlberechtigten ohne Angst vor Konsequenzen teilnehmen kann. Aber sie sind völlig unfair wegen der Medienmacht, dem Zugriff auf Ressourcen und dem ausgeklügelten klientelistischen System der herrschenden Parteien.

Bei der Wahl zum Belgrader Stadtparlament erhielt die SNS keine ­absolute Mehrheit. Sie sagten bereits, dass diese Kommunalwahl besonderes politisches Gewicht hatte – warum?

Serbien ist eine Präsidialdemokratie mit autoritären Tendenzen, aber es gab die Idee, dass, ähnlich wie in anderen Ländern in der Region – in Ungarn oder der Türkei (die Bürgermeister von Budapest und Istanbul sind Mitte-links- beziehungsweise grün-linke Politiker, Anm. d. Red.) –, zuerst die Regierung in der Hauptstadt sich ändern und dies ein Signal für andere Teile des Landes sein könnte. Aber es hat nicht gereicht. Sowohl Oppositions- wie Regierungsparteien haben sich auf die Kommunalwahlen vorbereitet, weil klar war, dass es knapp werden würde.

Die Parlamentswahl war vorgezogen worden. Warum?

Die Wahlen 2020 wurden aufgrund der Wahlbedingungen von den meisten Oppositionsparteien boykottiert. Im Oktober 2020, als die Regierung sich gebildet hatte, wurde angekündigt, dass 2022 das Parlament neu gewählt wird. Durch den Boykott gab es im Parlament keine Opposition und es war ein Eingeständnis der Regierungsparteien, dass diesem Parlament die Legitimität fehlte.

Welche Themen standen im Mittelpunkt des Wahlkampfs?

Anfangs spielte die Regierung mit der typischen Botschaft der Amtsinhaber: Seht euch all die wirtschaftlichen Fortschritte an, die wir vollbracht haben – Wirtschaftswachstum, ausländische Direktinvestitionen, Modernisierung und Industrialisierung des Landes, neue Fabriken, Autobahnen. Es ist diese Idee von Fortschritt, die die SNS verkörpert. Die liberale Opposition hatte keine eigene Botschaft. Bei ihr hieß es: Ja, es gibt Wirtschaftswachstum, aber auch Auslandsschulden. Ja, es gibt Modernisierung, aber auch tief verwurzelte Korruption. Ja, diese Regierung wird von der EU akzeptiert, aber seht euch ihre Verbindungen zum organisierten Verbrechen an. Und als der Krieg in der Ukraine begann, kritisierten die rechtsextremen Oppositionsparteien die Haltung der Regierung zur EU als zu freundlich, vor allem in Hinsicht auf die Verhandlungen über den Kosovo, die diese Parteien vollständig aufkün­digen wollen. Sie wollen engere Beziehungen zu Russland und dass Serbien sich mehr um Serbinnen und Serben in den Nachbarländern kümmert. Die ex­trem rechte Opposition hat vom Krieg profitiert, denn sie schnitt besser ab als in den Umfragen. Die Regierungspartei brauchte eine Woche, um sich anzupassen – statt ihre wirtschaftlichen Errungenschaften zu preisen, hieß es dann: Stabilität. Sie versprach, dass die aus dem Ukraine-Krieg resultierende internationale Krise nicht auf Serbien übergreifen und dass die serbische Bevölkerung keine negativen Konsequenzen des außenpolitischen Manövrierens zwischen Russland und der EU zu spüren bekommen werde.

In den vergangenen Jahren gab es viele Protestbewegungen, zuletzt den sogenannten Ökologischen Aufstand (Ekološki Ustanak). Dieser richtet sich gegen Pläne des britisch-australischen Bergbaukonzerns Rio Tinto, im Westen Serbiens im Tal des Flusses Jadar Lithium abzubauen. Die Regierung versuchte bislang erfolglos, das Enteignungsgesetz zu reformieren, um solche Projekte zu erleichtern. Wie haben sich die Proteste auf die Wahlen ausgewirkt?

Umweltproteste gibt es schon eine Weile. Vor fünf Jahren gab es eine große Bewegung gegen kleine Wasserkraftwerke im Südosten Serbiens; es gab ­Mobilisierungen wegen der desaströsen Luftqualität, und im Sommer 2021 breitete sich der Widerstand gegen den Lithiumbergbau durch Rio Tinto aus. All diese lokalen Proteste haben etwas gemeinsam: Sie richten sich gegen ein Wirtschaftsmodell, das Rohstoffe und Ressourcen ausbeutet, um die vermeintlich »grüne« kapitalistische Transformation in anderen Weltregionen zu ermöglichen. Die Regierung reagierte pragmatisch. Sie kontrolliert so ziemlich alles in diesem Land, aber externe Faktoren kann sie nicht kontrollieren – die Covid-19-Pandemie, den Krieg in der Ukraine, die Wirtschaftskrise. Sie passt sich jedoch schnell an diese ­Situationen an. Die Protestbewegung hatte das Potential, ihr bei den Wahlen zu schaden, also tat sie alles, um sie zu unterbinden. Allerdings nicht genug, denn die links-grüne Koalition gewann erstmals Sitze im Parlament.

Diese links-grüne Koalition, »Moramo!« (Wir müssen!), wurde offiziell im November 2021 gegründet. Sie erhielt 4,63 Prozent der Stimmen und zwölf Sitze bei den nationalen Parlaments- sowie 10,75 Prozent und 13 Sitze bei der Kommunalwahl in Belgrad. Um wen handelt es sich dabei?

Moramo besteht aus drei größeren Bewegungen: Erstens »Ne Da(vi)mo Beograd, eine politische Organisation aus Belgrad, die 2016 im Widerstand gegen das Stadterneuerungsprojekt« Belgrade Waterfront« aktiv war und sich für grün-linke Ideen, Solidarität und partizipative Demokratie einsetzt. Dann die Plattform des ehemaligen Bürgermeisters von Šabac und als drittes die Umweltbewegung Ökologischer Aufstand. Kleinere Koalitionspartner sind einer der Roma-Verbände, die linke Plattform Solidarnost sowie ein loser Zusammenschluss von Intellektuellen. Diese grün-linke Koalition hat eine starke ­Basis in sozialen Bewegungen – es ist eine Kombination aus Protestbewegungen der vergangenen acht Jahre.

Vučić erhielt eine sehr komfortable Mehrheit, fast 60 Prozent der Stimmen, bei der Präsidentschaftswahl. Haben Sie dieses Ergebnis erwartet?

Es hat mich überrascht, dass die Regierungspartei weniger Stimmen gewonnen hat als bei den letzten Parlamentswahlen, aber Vučić in absoluten Zahlen mehr Stimmen als 2017. Es könnte eine Folge des Ukraine-Kriegs sein, dass einige für Vučić als Präsident, aber für rechtsextreme Parteien bei der Parlamentswahl gestimmt haben. Allein hat die SNS mit 120 von 250 ­Sitzen keine Mehrheit, aber Vučić ist fähig darin, Koa­litionen zu bilden, und die SNS eine so hegemoniale Catch-all-Partei, dass sie koalieren kann, mit wem sie will, zum Beispiel mit der ungarischen oder bosniakischen Minderheitsliste oder mit der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS). Obwohl es ein Fragezeichen bei der SPS gibt wegen der engeren Bindung der Sozialisten an Russland. Wenn Vučić gute ­Beziehungen zur EU aufrechterhalten möchte, kann Ivica Dačić (der Vorsitzende der SPS, Anm. d. Red.) nicht Ministerpräsident werden, auch aufgrund der historisch starken Fürsprache der Sozialisten für russische Investitionen und russisches Engagement im serbischen Energiesektor. Das wird die zen­trale Frage der kommenden Monate.

Was bedeutet die Fortsetzung der SNS-Herrschaft für die Außenpo­litik Serbiens, die in den vergangenen Jahren zwischen der Anbindung an die EU, Russland und China manövrierte?

Es gibt keine politische Kraft in Serbien, die die Außenpolitik in eine andere Richtung drängen könnte. Die Regierungspartei will alles zugleich und die Opposition genauso. Die Wählerinnen und Wähler der Regierungsparteien betrachten die EU als eine Kuh, die man für immer melken kann, die EU ist Geld, Entwicklung. Die Wählerinnen und Wähler der Opposition sind verwirrt von den Botschaften der EU, denn sie verbinden diese auch mit Rechtsstaatlichkeit, Schutz von Minderheitenrechten und Gewaltenteilung, und dann sehen sie, wie die SNS-Regierung all diesen Werten widerspricht und wie die EU die Regierung dennoch seit zehn Jahren unterstützt. Sie wollen Klarheit, ob Serbien ein zukünftiger Mitgliedstaat oder ein Ausreißer wie Belarus oder Aserbaidschan ist.

Wie sieht es mit den künftigen Beziehungen zu Russland aus?

Es ist zu früh, um das zu sagen. Dieser Krieg wird langfristige Auswirkungen haben und das ist nur der Anfang von Veränderungen in den Beziehungen zwischen Serbien und Russland. Die Regierung zögert, ihre Position zu ändern, da es national und international Umbrüche nach sich ziehen könnte, die sie nicht kontrollieren kann. Wir werden keine plötzlichen Verschiebungen sehen, sondern allmähliche Veränderungen, wenn überhaupt.