Rechtsstaat und EU-Milliarden
Politiker der rechten ungarischen Regierungspartei Fidesz haben schon des Öfteren betont, dass die EU-Mitgliedschaft Ungarns für sie eine rein finanzielle Angelegenheit sei. Parlamentspräsident László Kövér etwa hatte 2021 im Radio gesagt, dass er aus heutiger Sicht der EU-Mitgliedschaft Ungarns nicht mehr zustimmen würde. Nun scheinen sie auf die Probe gestellt zu werden, ob sie einen Austritt tatsächlich wagen, denn das EU-Geld könnte ausgehen. Schuld daran ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Mittwoch vergangener Woche.
Das Gericht wies eine gemeinsame Klage Ungarns und Polens ab. Die beiden Länder hatten gegen den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus geklagt, der beinhaltet, dass EU-Zahlungen an einen Mitgliedstaat künftig gekürzt oder ganz eingefroren werden können, wenn dieser gegen die Rechtsstaatlichkeit verstößt und deshalb die Verwendung von EU-Mitteln nicht mehr objektiv nachvollzogen werden könnte. Konkret wäre das etwa dann der Fall, wenn die nationalen Behörden nicht gegen Korruption einschreiten oder wenn die Justiz nicht unabhängig ist. Diese »Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit« war bereits mit Jahresbeginn 2021 in Kraft getreten, von der EU-Kommission aber so lange nicht angewendet worden, bis das Urteil des EuGH gefällt war. Gegen Ungarn und Polen laufen Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge.
»Was für Kasachstan und Russland die Einnahmen aus Öl und Gas sind, ist für Ungarn das Geld aus der EU.« Bálint Magyar, ehemaliger Bildungsminister Ungarns
Zehn EU-Mitgliedsstaaten, keiner davon aus Osteuropa, hatten den EuGH vor dem Urteil dazu aufgefordert, die Klage Ungarns und Polens abzuweisen. Ungarn, Rumänien und Bulgarien belegen im Korruptionswahrnehmungsindex der NGO Transparency International seit Jahren die untersten Plätze innerhalb der EU. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán wird vorgeworfen, mit EU-Subventionen Freunde und Verwandte zu bereichern, Polens Regierung der rechten nationalistischen Partei PiS, mit ihrer Justizreform den Rechtsstaat auszuhöhlen.
Pikant ist der Zeitpunkt des EuGH-Urteils. Am 3. April stehen in Ungarn Parlamentswahlen an. Eine Aberkennung von EU-Mitteln in Höhe von mehreren Milliarden Euro wäre ein schwerer Schlag für die Popularität Orbáns und seiner Partei Fidesz. Und nicht nur das EU-Geld, sondern die EU-Institutionen insgesamt sind in Ungarn populärer als jede andere politische Institution und erfreuen sich auch unter den Anhängern der Regierung hoher Zustimmungswerte, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Medián von 2020 ergab. Demnach unterstützen 94 Prozent der befragten Anhänger der Opposition die EU, bei den Fidesz-Anhängern waren es 77 Prozent, in der Gesamtbevölkerung 86 Prozent.
Über 6,1 Milliarden Euro erhielt Ungarn 2020 als Nettoempfänger von der EU, das entspricht etwa zehn Prozent des Staatshaushalts von 2021 (umgerechnet 65 Milliarden Euro) oder 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes für 2020 (umgerechnet 137 Milliarden Euro). Bálint Magyar, ehemaliger Bildungsminister unter mehreren sozialdemokratischen Regierungen (1996–1998 und 2002–2006), vergleicht Ungarn im Gespräch mit der Jungle World mit Kasachstan und Russland: »Was für diese Staaten die Einnahmen aus Öl und Gas sind, ist für Ungarn das Geld aus der EU.« In seinem 2016 erschienenen Buch »Post-Communist Mafia State. The Case of Hungary« vergleicht er das Regime Orbáns mit einem Netzwerk der organisierten Kriminalität, das nicht nach institutionellen Regeln, sondern persönlichen Beziehungen funktioniere. Das Geld der EU werde von Orbáns Umfeld in ein Geflecht privater Firmen gelenkt.
Dass sich das vor der ungarischen Parlamentswahl noch ändert, ist fraglich; schon bisher haben Ungarn und Polen zumindest offiziell mit dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) kooperiert, um Strafen zu vermeiden. Allerdings erkennen beide die Befugnisse der Europäische Staatsanwaltschaft, die seit seit dem 1. Juni vergangenen Jahres, wie es heißt, »grenzübergreifende Straftaten gegen den EU-Haushalt« verfolgen soll, nicht an. Die ungarische Justiz führt europäische Ermittlungen nicht weiter, wenn diese sich gegen Personen mit wichtigen politischen Verbindungen richten.
Sollte Fidesz die Parlamentswahlen gewinnen und Orbán kein Geld mehr von der EU erhalten, aber ständig wegen der mangelnden Rechtsstaatlichkeit kritisiert werden, könnte er einen EU-Austritt in Erwägung ziehen, so Magyar. Weder die Verfassung von 2011, die Fidesz mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament durchdrückte, noch die öffentliche Meinung könnten ihn davon abhalten, denn für einen möglichen EU-Austritt sehen ungarische Gesetze keine Volksabstimmung vor.
Dass Orbán die öffentliche Meinung mit Hilfe des allumfassenden Propagandaapparats aus staatlichen und privaten Medien, die von regierungsnahen Firmen kontrolliert werden, und mit Plakat- und sonstigen Werbekampagnen zu seinen Gunsten stark beeinflussen kann, hat der Ministerpräsident bereits während der »Flüchtlingskrise« 2015 bewiesen. Aus einer im europäischen Vergleich »durchschnittlich xenophoben Bevölkerung«, so Magyar, habe Orbán eine durch und durch xenophobe gemacht. Das hätten entsprechende vergleichende Umfragen gezeigt. Das Einzige, was Ungarn heute noch von Russland unterscheide, sei der weitgehende Verzicht auf physische Gewalt, wie sie der russische Präsident gegen seine Gegner einsetzen lässt. Doch sollte Orbán Ungarn aus der EU führen, sei ihm ohnehin alles zuzutrauen, meint Magyar: Orbán könnte Wladimir Putin, dem er ungewöhnlich nahesteht, auch in diesem Punkt nacheifern.
Weiterhin fraglich bleibt, ob die EU überhaupt Maßnahmen gegen Ungarn und Polen im Rahmen des Rechtsstaatsmechanismus einleiten wird; die EU-Kommission rechne in den nächsten Wochen nicht mit deren Beginn, heißt es.