Ein Gespräch mit Ania Hadda und ­Esther Petri-Adiel über den Treffpunkt für Überlebende der Shoah und ihre Familien

»Kein Ort der Traurigkeit«

2002 gründete eine jüdische Initiative in Frankfurt am Main den Treffpunkt für Überlebende der Shoah und ihre Familien, um den Davongekommenen einen Raum zu geben, in dem sie sich treffen können und in dem sie psychosoziale Unterstützung erhalten. Die »Jungle World« sprach mit Ania Hadda, die den Treffpunkt bis 2020 leitete, und ihrer Nachfolgerin Esther Petri-Adiel.
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Der Treffpunkt für Überlebende der Shoah und ihre Familien wurde 2002 von einer jüdischen Initiative in Frankfurt am Main gegründet, um den Davongekommenen einen Raum zu geben, in dem sie sich treffen können und in dem sie psychosoziale Unterstützung erhalten. In der Trägerschaft der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) wurde der Frankfurter Treffpunkt zu einem bundesweiten Vorbild. Mittlerweile gibt es über 30 vergleichbare Einrichtungen. Wie kam es zu der Gründung?

Hadda: Unser Ziel war es, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem Überlebende der Shoah soziale Kon­takte pflegen oder erneuern und sich mit ihresgleichen treffen können. Hier müssen sie nicht viel erklären und können frei über alles sprechen, was sie bewegt. Es finden sich immer offene Ohren und Menschen, die ihnen dabei helfen, den immer schwieriger werdenden Alltag zu bewältigen. Es sollten auch immer Sozialarbeiterinnen und Psychologen für Gespräche zur Verfügung stehen.
Allerdings dauerte es lange, bis die Ersten wagten, die Beratungsdienste der Sozialarbeiterinnen in Anspruch zu nehmen oder ein längeres Gespräch mit einem der Psychologen zu führen. Von Anfang an hatten wir Sprechstunden eingerichtet, aber die Leute wollten nicht hingehen. Sie haben gesagt: Wir brauchen keine Psychologen, wir sind ja nicht krank. Man darf nicht vergessen, dass sie nach der Shoah weiter­gelebt und Familien gegründet haben. Für sie war es ein Schutz, nicht dar­über zu sprechen. Sie wollten nicht zur Sprechstunde, aber wenn sie zusammen am Tisch saßen, haben sie angefangen zu erzählen. Sie brauchten andere, die Ähnliches erlebt haben, um sich zu öffnen.

Welche Angebote gibt es noch für die Überlebenden?

Petri-Adiel: Wir machen vor allem sogenannte niederschwellige Angebote, also so etwas wie Malkurse oder Gedächtnistraining, damit die Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Außerdem laden wir immer wieder Gäste ein. Kürzlich war zum Beispiel ein Rechtsanwalt da, weil wir gemerkt haben, dass viele keine Patientenverfügung haben. Unsere Angebote werden unterschiedlich genutzt: Die Jüngsten, also die child survivors, besuchen am häufigsten die Kurse oder kommen mit auf Ausflüge. In der mittleren Gruppe, der der Ende 80- und Anfang 90jährigen, ist unser Café am Mittwoch am beliebtesten. Und bei den über 90jährigen, von denen einige bereits über 100 Jahre alt sind, machen wir meist Hausbesuche. Der Treffpunkt ist kein Ort der Traurigkeit. Die Leute haben die Traurigkeit in sich, aber man diskutiert hier und singt, und sie gehen mit einem Lachen raus.

Wie hat sich die Covid-19-Pandemie auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Petri-Adiel: Es gibt selbstverständlich große alltägliche Probleme, mit denen wohl alle Senioren in der Pandemie zu kämpfen haben. Aber für die Menschen hier ist plötzlich auch dieser geschützte Raum weggefallen. Dazu kam – was wir erst im Laufe der vergangenen zwei Jahre mitbekommen haben –, dass ­Begriffe wie Ausgangssperre, Isolation oder Aktion bei ihnen ein Trauma auslösen können. Und zum Beispiel auch der Begriff Registrierung: Wir denken ja kaum darüber nach, wenn wir uns in einem Restaurant registrieren müssen. Aber für einen Menschen, der versteckt war, der seine ganze Identität verstecken musste, ist das ein Problem.

Hadda: Für diese Menschen ist auch eine Quarantäne absolut schrecklich. Wenn sie zu Hause bleiben müssen, kann es sein, dass sie dort ihre Traumata wieder durchleben.

Konnten Sie auch Angebote unter den Pandemiebedingungen weiterführen?

Petri-Adiel: Wir konnten keine Hausbesuche machen, daher haben wir Tür­besuche gemacht. Da es derzeit oft immer noch nicht möglich ist, mit der ­Familie am Sabbat gemeinsam zu essen, haben wir das Projekt »So schmeckt Schabbes« begonnen. Da­niel Stern, ein Ehrenamtlicher, hatte die Idee, dass wir das Abendessen einfach an die Überlebenden liefern. Generationenübergreifend bringen Menschen Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch zum Treffpunkt und von dort aus fahren junge Menschen die Speisen zu den Klientinnen und Klienten.

Die Überlebenden sind mittlerweile in einem fortgeschrittenen Alter. Gibt es Pläne, den Treffpunkt für Angehörige der Folgegenerationen weiterzuführen?

Petri-Adiel: Ich selbst gehöre zur dritten Generation. Als ich hier angefangen habe, hat mir Ania schon immer gesagt: »Denk an die zweite Generation!« Es gibt wissenschaftliche Studien, dass auch Menschen der zweiten Ge­neration einen großen Bedarf haben. Das ist mittlerweile auch bei den Förderstellen angekommen.

Hadda: Daran haben wir auch gearbeitet. Das Thema wurde lange Zeit nicht berücksichtigt. Wir haben vor Corona angefangen, darauf aufmerksam zu machen, und auch Angehörige der zweiten Generation in den Treffpunkt eingeladen. 60 Menschen sind gekommen. Es wird die Aufgabe des Treffpunkts sein, in Zukunft auch für sie da zu sein.

Petri-Adiel: Was auch sehr wichtig ist: Wir bekommen wöchentlich Anfragen für Zeitzeugengespräche. Die Zeitzeugen können aber meistens nicht mehr, viele sind gestorben, viele wollen nicht mehr. Da ist die zweite Generation gefragt, die Geschichte ihrer Eltern zu erzählen. Wir machen das hier bei uns, damit die Menschen nicht ihre Privaträume nutzen müssen.

Wie nehmen die Besucherinnen des Treffpunkts den heutigen Antisemitismus in Deutschland wahr?

Hadda: Dazu kann ich eine Anekdote erzählen. Die Schriftstellerin Barbara Bišický-Ehrlich war hier und hat vom Antisemitismus erzählt, den ihre Tochter als Fußballerin bei TuS Makkabi Frankfurt erfährt. Die Überlebenden haben zugehört, dann ist einer aufgestanden und hat gesagt, dass das nicht so wäre. Er habe Nachbarn, die seien in Ordnung, seine Kinder hätten das nicht erlebt und so weiter. Viele wollen nichts von Antisemitismus in Deutschland hören, weil das Thema ihnen unglaublich viel Angst macht.

Petri-Adiel: Viele Deutsche verstecken sich und sagen zum Beispiel, dass der Antisemitismus allein bei den Muslimen liege. Das Problem ist aber viel größer. Anfang Januar gab es diesen schrecklichen Artikel in der FAZ von Wolfgang Reinhard mit dem Titel »Vergessen, verdrängen oder vergegenwärtigen?« Darin heißt es, er wolle an das »Recht auf Vergessen« erinnern. Er schreibt dann von einer »deutschen Holocaust-Orthodoxie« und davon, dass die Shoah zu einer »negativen sakralen Kategorie geworden« sei. Das ist nicht hinnehmbar, es braucht deutlichen Widerspruch. Auch zum Beispiel gegen die Versammlungen der »Querdenker«. Das sind keine einzelnen Spinner, die werden immer mehr und sie tragen gelbe Sterne, auf denen »ungeimpft« steht. Es genügt nicht, lediglich am 27. Januar gegen Antisemitismus zu demonstrieren.

Hadda: Man darf nicht schweigen. Schweigen ist am Ende der Tod.

 

Ania Hadda wurde 1950 in Wrocław (Polen) geboren. Ihre Eltern flüchteten mit ihr vor dem dortigen Antisemitismus nach Israel, wo sie ihr Studium der Soziologie und Philosophie abschloss. Später zog sie nach Frankfurt am Main, wo sie den Treffpunkt für Shoah-Überlebende mit aufbaute und 18 Jahre lang gemeinsam mit Dr. Noemi Staszewski leitete.

Esther Petri-Adiel wurde 1976 in Jerusalem ge­boren. Sie ist Juristin und leitet seit 2020 den Treffpunkt für Überlebende der Shoah und ihre Familien.