Christoph Dallach lässt die Protagonisten des Krautrock berichten

Kraut ohne Rock

Christoph Dallach lässt in seinem Buch »Future Sounds« die Protagonisten des Krautrocks ihre Geschichte erzählen.

Die Krautrocker waren so etwas wie verspätete Beatniks im Deutschland der siebziger Jahre. Knapp zwei Jahrzehnte später als ihre US-amerikanischen Vorbilder versuchten sie, die richtigen Sounds im falschen Leben zu erfinden –anders als Allen Ginsberg oder Jack Kerouac, die den Jazz vorfanden. Die Musiker wollten nicht »mitmachen«, weder in der restaurativen Gesellschaft noch bei der orthodoxen Kritik an ihr. »Wir wollten wirklich etwas Neues schaffen (…). Es musste innovativ und ungehört sein. Das war unser Anspruch«, erklärt Michael Rother, der Gitarrist bei Kraftwerk und später bei Neu! und Harmonia war, im Interview mit dem Musikjournalisten Christoph Dallach. Dallach lässt in seinem Buch »Future Sounds« die Protagonisten der Szene zu Wort kommen und verzichtet weitgehend auf eine eigene Darstellung. Ähnlich hat es Jürgen Teipel in seinem Dokuroman »Verschwende deine Jugend« über Punk und New Wave gemacht. Die Erzählform birgt allerdings die Gefahr, dass die Aussagen redundant wirken und die Zeitzeugen sich nicht nur nicht mehr an Details erinnern, sondern einiges verklären und hinzudichten.

Tatsächlich war es vor allem der Begriff »Rock«, der die Musiker störte. Denn genau das war es nicht, was da aus den Lautsprechern drang. »Rock steht nämlich für gar nichts. Rock machen auch Rechtsradikale«, sagt Can-Schlagzeuger Jaki Liebezeit.

Die mit »1968«, »Haare«, »Kommerz«, »Moog«, »Jazz«, »Neu!« und »Deutsch« überschriebenen Kapitel behandeln die unterschiedlichen Aspekte des Kosmos »Krautrock«. Schnell wird klar: Eine homogene Szene gab es nicht, im Gegenteil. ­Begegnungen fanden eher zufällig auf Festivals oder im Studio statt. Die Platten der anderen hörte man eher selten, vermutlich ist das auch eine der Erklärungen dafür, dass Gruppen wie Amon Düül II, Can, Cluster, Faust, Kraftwerk, Neu!, Guru Guru, Ash Ra Tempel oder Tangerine Dream zumindest in den ersten Jahren so unterschiedliche Wege zu gehen versuchten. Jede Band, jedes ­Album ein eigener Planet im Kosmos der Krautmusik. Möglich machten das auch die Studios der Klangtüftler Thomas Kessler und Conny Plank, denen Dallach eigene Kapitel widmet.

Aber wieso eigentlich »Kraut«? Glücklich waren die Musiker über diese Bezeichnung jedenfalls nicht. Michael Rother sagt: »Es fängt schon damit an, dass ich den Begriff nicht besonders mag.« Der britische Musiker Julian Cope urteilte 1995 in seinem leicht schwärmerischen und verklärenden Buch »Krautrocksampler: One Head’s Guide to the Great Kosmische Musik« anders: »Ein brillanter Begriff, genau wie ›Punk‹, funktioniert als Scherz und bringt den Sound voll auf den Punkt.«

Tatsächlich war es vor allem der Begriff »Rock«, der die Musiker störte. Denn genau das war es nicht, was da aus den Lautsprechern drang. »Rock steht nämlich für gar nichts. Rock machen auch Rechtsradikale«, sagt Can-Schlagzeuger Jaki Liebezeit. Er sah Can immer als »Popgruppe«, die alle möglichen Einflüsse hatte: Irmin Schmidt und Holger Czukay hatten bei Karlheinz Stockhausen studiert, Liebezeit spielte Free Jazz im Globe Unity Orchester, außerdem hatte man Sympathien für Bands wie Velvet Underground, die ihre Instrumente »wie Schweine« (Holger Czukay) spielten und Musik mit Kunst verbanden.

Krautrock hingegen war das, was Bands wie Grobschnitt, Jane oder Birth Control machten. Er klang wie ein billiges Plagiat der Vorbilder aus Großbritannien und den USA. Für die Charts reichte das, für mehr nicht, schon gar nicht dazu, die Ohren künftiger Hörergenerationen zu erreichen. Mittlerweile sind die Originalpressungen nur noch als Sammlerstücke attraktiv, die für drei- oder vierstellige Beträge über die Laden­theke gehen und in den privaten Sammlungen die Regalmeter füllen.

Doch um diese Bands geht es im Buch glücklicherweise kaum, sondern um die Musik, die den großen Einschnitt Ende der Siebziger vorbereitet hatte und bis heute nachhallt. Wenn Paul Weller Neu! als Vorbild der Sex Pistols bezeichnet, dürfte er vor allem das Stück »Hero« auf der dritten LP der Gruppe mit dem Titel »Neu! 75« (1975) im Hinterkopf haben. Der Gesang von Klaus Dinger muss Johnny Lydon aka Johnny Rotten dermaßen beeindruckt haben, dass er ihn für »Anarchy in the UK« bis ins kleinste Detail kopiert hat: schnoddrig-aggressiv bis überheblich, das R beinahe teutonisch rrrollend … Rrrright noooww!

Der Begriff »Kraut« wies ironisch gebrochen auf die Herkunft der Musiker hin, doch die Krautrocker waren weit davon entfernt, sich ideologisch vereinnahmen zu lassen. »Unser Sound war nicht deutsch, sondern universal«, hält Hans-Joachim Roedlius Leuten wie DAF-Frontmann Gabi Delgado entgegen, der tatsächlich meinte, der »deut­sche Sound« zeichne sich durch »Vorsprung durch Technik« aus. Kraftwerk spielten zwar mit den Klischees und bewegten sich mit Titeln wie »Heimatklänge« am Rande dessen, was heute als identitär gilt; den Schritt zur selbstbewussten, dezidiert deutschen Band vollzogen sie nicht. Deshalb hatten sie auch kein Problem damit, ihre Platten später auf Englisch herauszubringen.

Dass die Bands, so unterschiedlich ihre Musik und Ästhetik auch waren, gemeinsame Grundlagen haben, lässt sich dennoch nicht wegdiskutieren. Und diese Basis liegt, wie in vielen anderen Ländern auch, im politischen und kulturellen Aufbruch der sechziger Jahre. In Deutschland war die Kontinuität der NS-Zeit die Herausforderung. In der Schule sei zwar schnell »Guten Morgen« statt »Heil Hitler« gesagt worden, wie der Pianist und Free Jazzer Alexander von Schlippenbach erzählt. Von »Aufarbeitung« aber keine Spur. Es ging zunächst ums »Überleben« und erst später um den Protest gegen den »Muff von 1 000 Jahren«.

Dass Schlippenbach in dem Buch auftaucht, ist ein Verdienst von ­Dallach. Er zeigt, dass nicht nur die »Krautrocker« neue Wege gingen, auch der europäische Free Jazz entwickelte einen individuellen Sound, der sich musikalisch von den US-amerikanischen Vorbildern absetzte. Vor allem beim deutschen Free Jazz wurde anfangs von der »Kaputtspielphase« gesprochen. Peter Brötzmann, Saxophonist aus Wuppertal, veröffentlichte Alben, die Titel wie »Machine Gun« (1968) oder »The End« (1971) trugen.

»Machine Gun« war von Saxophontönen geprägt, die an Salven aus dem Maschinengewehr erinnern. Assoziationen zu Jimi Hendrix, der bei Woodstock die US-amerikanische Nationalhymne auf seiner Gitarre radikal zerlegte, liegen nahe. Obwohl auch der Protest gegen den Vietnamkrieg eine Rolle spielte, betont Brötzmann rückwirkend den ästhe­tischen Aspekt: Bei jeder künstlerischen Tätigkeit gehe es erst mal darum, »Dinge in Frage zu stellen«. Als bildender Künstler und Graphiker, der aus der Fluxus-Szene stammte, hatte er ohnehin einen Zugang, der den individuellen Aspekt der Musik noch einmal betonte und die Kategorisierungen an sich in Frage stellte.

Einige Musiker engagierten sich dennoch im SDS, als dieser noch als antiautoritär galt, die maoistischen K-Gruppen waren entsprechend nicht beliebt. Man schätzte Willy Brandt wegen seiner Entspannungspolitik, kiffte und schmiss Trips, sah Demos aber vor allem als anarchistisches Happening und lebte in der Kommune – entweder mitten in München (Amon Düül) oder auf dem Land (Faust, Guru Guru, Kraan). Es gab aber auch entschiedene Gegner von Kollektiven. »Wir waren keine Hippies und wollten nicht zusammenwohnen«, sagt Holger Czukay. »Für mich war die Vorstellung einer Kommune der Horror«, ergänzt Irmin Schmidt.

Schmidt erweist sich als Glücksfall für das Buch: ein äußerst analytischer Erzähler, der nahezu druckreif spricht und dessen Zitate allein schon die Lektüre des Buches lohnen. Bis 1968 war Schmidt auch politisch sehr aktiv, danach distanzierte er sich von den neu entstehenden Parteien und Organisationen. Es fehlte nicht nur bei ihm der Glaube an »irgendwelche gewaltsam praktizierten Heilungen und Umwälzungen der Gesellschaft«. Die Gründung von Can war sein politisches Manifest.

Mitte der siebziger Jahre ging die Hochzeit des experimentellen Krautrock langsam zu Ende. Neu! lösten sich 1975 nach drei großartigen Platten auf (in den Achtzigern missglückte ein Comeback-Versuch). Michael Rother gründete nach Neu! Gemeinsam mit dem Duo Cluster (Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius) die Gruppe Harmonia, die nur zwei Jahre bestand und Berühmtheit deshalb erlangte, weil sie die frühe elektronische Musik gekonnt ironisierte. Brian Eno machte mit Cluster in den Jahren 1977 und 1978 zwei Alben (»Cluster & Eno« ­beziehungsweise »After the Heat«), die Ambient-Territorium erkundeten. Can hatten ihre drei wirklich wichtigen Platten »Monster Movie«, »Tago Mago« und »Ege Bamyasi« zwischen 1969 und 1972 eingespielt; bekannt wurden sie vor allem durch ihre Soundtracks, allen voran dem Titelsong zur Durbridge-Fernsehserie »Das Messer«.

Noch erfolgreicher im Sinne kulturindustrieller Verwertbarkeit ­waren die beiden Gruppen, die ihren Sound früh modifizierten, professionalisierten und dadurch wiedererkennbar machten, ohne ihn gänzlich zu verraten: Tangerine Dream und Kraftwerk. Die Bezeichnung »Kraut« funktionierte hier schon Mitte der siebziger Jahre nicht mehr. Kraftwerk haben einen klaren Schnitt gemacht; die freien Klänge ihrer ersten Alben passten nicht mehr zur perfekten Inszenierung des uniformierten Kraftwerk-Sounds und -Stils seit »Autobahn« (1974). Und so ist es auch konsequent, dass die Kraftwerk-Mitglieder seit 40 Jahren da­rauf verzichten, die ersten drei Platten wiederzuveröffentlichen.

Auch Tangerine Dream entwickelten sich. Das Erstwerk »Electronic Meditation«(1970) mischt Free Rock, Noise und Psychedelia, orientiert sich an frühen Pink-Floyd-Alben und findet seine Nachfolger eher bei Gruppen wie Throbbing Gristle oder Sonic Youth – aber nur in ihren wirklich lauten und freien Momenten. Der Übergang von »Zeit« (1972) zu »Phaedra« (1974) war auch der Abschied vom Label »Brain«, das sich ausschließlich dem Krautrock gewidmet und Bands von Jane bis Neu! unter Vertrag hatte. Fortan ging es darum, den nun eigens entwickelten Tangerine Dream-Sound, breite Synthesizer-Flächen getragen von ­reduzierter Sequencer-Rhythmik, mit dem die Band von London über Tokio bis Hollywood schließlich ­berühmt wurde, zu perfektionieren. Man wollte die Erwartungen von Großlabel Virgin und Publikum erfüllen.

Christoph Dallach: Future Sounds. ­Suhrkamp, Berlin 2021, 511 Seiten, 18 Euro