Unruhen in Ecuadors größtem ­Gefängnis forderten 119 Menschenleben

Massaker hinter Gittern

In Ecuador wurden bei Unruhen im größten Gefängnis des Landes 119 Menschen getötet. In den Haftanstalten haben Banden und Drogenkartelle das Sagen, doch es gibt auch weitere strukturelle Probleme.

119 Tote und mindestens 80 Verletzte – das ist die Bilanz des jüngsten Gefängnismassakers in der Penitenciaría del Litoral, Ecuadors größtem Gefängnis. Die Haftanstalt im Großraum der Industriemetropole Guayaquil ist mit rund 10 000 Häftlingen deutlich überbelegt – wie viele Haftzentren in der Region. Die chronische Überbelegung ist nur ein Grund, weshalb es in Ecuadors Gefängnissen immer wieder zu Aufständen und Bandenkriegen kommt wie vergangene Woche in der Penitenciaría del ­Litoral, wo das Massaker die bislang höchste Zahl von Opfern in Ecuadors Justizgeschichte gefordert hat.

Angefangen hatten die Kämpfe dort am Dienstagmorgen vergangener Woche. Am Mittwoch verhängt Ecuadors Präsident Guillermo Lasso den Ausnahmezustand über sämtliche Haftanstalten im Land, um die Konflikte unter Kontrolle zu bringen. Am Samstag flammten sie kurzzeitig wieder auf, als Polizei und Armeeeinheiten ein anderes Gefängnis durchsuchten und unter anderem Gewehre, Pistolen, Mobiltelefone und Drogen beschlagnahmten. Dabei wurden die Ordnungskräfte von Insassen beschossen, es gab vier Verletzte. Am Sonntag gab die Regierung bekannt, die Penitenciaría del Litoral sei wieder unter Kontrolle und die Gefängnisse des Landes stünden unter Aufsicht von Armee und Polizei; mehr als 3 600 Ordnungskräfte waren eingesetzt worden.

Rechnerisch ist in Ecuador ein Vollzugsbeamter für 26 Häftlinge verantwortlich, obgleich die Vereinten Nationen ein Verhältnis von eins zu zehn empfehlen.

Lasso führt die Konflikte hinter Gittern auf Kämpfe zwischen organisierten Banden zurück. Es sei bedauerlich, dass die Banden versuchten, die Gefängnisse zu einem Schlachtfeld für ihre Machtkämpfe zu machen, meinte der Präsident auf einer Pressekonferenz Mitte vergangener Woche.

Die Situation in den Haftanstalten um die Hafenstadt Guayaquil ist besonders brisant. Diese ist noch vor der Hauptstadt Quito die größte Stadt des Landes und befindet sich auf einer der wichtigsten Routen für den Drogenschmuggel. Kokain vor allem aus Kolumbien, aber auch aus Peru und Bolivien wird über den Hafen nach Europa und in die USA geschmuggelt. Berichten zufolge sollen dort auch mexikanische Kartelle tätig und in den Bandenkrieg involviert sein. Dieser schwelt seit Jahren zwischen Los Choneros (entstanden in den Neunzigern in der Stadt Chone) und Los Lobos (Die Wölfe).

Es ist kein Wunder, dass dieser Konflikt mittlerweile auch in den Vollzugsanstalten des Landes stattfindet. Dort sind die Häftlinge oft sich selbst überlassen, die Vollzugsbeamten konzentrieren sich häufig nur darauf, niemanden herauszulassen; was sich hinter den Zelltüren abspielt, interessiert sie kaum. Zudem seien es oft jene Beamte, die gegen Bargeld Waffen in die Vollzugsanstalten des Landes schmuggeln, berichtet Mario Pazmiño, ein ehema­liger Mitarbeiter des militärischen Geheimdiensts.

Die Choneros seien mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell vernetzt, so Pazmiño, während die Konkurrenz der Lobos und weitere Banden wie Los Lagartos (hier in der Bedeutung: Die Kaimane) für das Kartell Nueva Generación aus Jalisco arbeiteten. Es geht um die Kontrolle des regionalen Drogenmarkts, vor allem aber um die Schmuggelrouten. Der Konflikt wird mit extremer Brutalität ausgetragen. Nur rund 100 der 119 Toten des jüngsten Massakers konnten bislang identifiziert werden; mindestens sechs wurden enthauptet, mehrere Leichen waren verkohlt, etliche verunstaltet. Polizeitechniker haben die Familien aufgerufen, unveränderliche Kennzeichen ihrer Angehörigen anzugeben.

Das investigative Online-Medium Código Vidrio schätzt, dass von den 40 000 Häftlingen beiderlei Geschlechts rund 25 000 einer der konkurrierenden Banden angehören. Dass die organisierte Kriminalität so leichtes Spiel in den Haftanstalten des Landes hat, hängt eng mit strukturellen Defiziten zusammen. Rechnerisch ist in Ecuador ein Vollzugsbeamter für 26 Häftlinge verantwortlich, obgleich die Vereinten Nationen ein Verhältnis von eins zu zehn empfehlen. Viele der Inhaftierten sitzen zudem für Bagatelldelikte wie Ladendiebstahl oder Verkauf von Marihuana in Untersuchungshaft; dafür sind Defizite im Justizsystem mitverantwortlich.

Zudem sind die Sicherheitsvorkehrungen in den Justizvollzugsanstalten des Landes nicht ausreichend, was auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission kritisierte. Sie verurteilte das jüngste Blutbad. »Wir erinnern daran, dass Staaten die Pflicht haben, das Recht von Häftlingen auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu garantieren«, hieß es in einer Stellungnahme. »Wir fordern Ecuador dazu auf, die Sicherheitsmaßnahmen in den Gefängnissen zu erhöhen und kriminelle Aktivitäten zu unter­binden.«

Der unmissverständliche Ton der Kommission hat auch damit zu tun, dass es in Ecuador bereits in den vergangenen Monaten immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in Gefängnissen gekommen ist. Im Juli starben bei Kämpfen in Haftanstalten in Cotopaxi und Guayaquil insgesamt 22 Menschen, im Februar, während ­eines Aufstands in drei Gefängnissen zugleich, waren es 79; 2020 registrierte die Ombudsstelle für Menschenrechte 103 Opfer. Doch bisher ist den politisch Verantwortlichen wenig mehr eingefallen, als immer wieder den Ausnahmezustand über die Haftanstalten zu verhängen und Polizei und Armee zu Hilfe zu rufen.

Das kritisiert auch das Verfassungsgericht: Bereits im März bescheinigte es dem Vollzugssystem eine »schwache Institutionalisierung«. Ecuadorianische Menschenrechtsanwälte wie Carlos Montenegro mahnen strukturelle Reformen an. Ob die kommen, ist noch offen, aber diskutiert wird immerhin, ob ältere Häftlinge nicht entlassen werden sollten, ebenso wie all jene, die wegen Bagatelldelikten einsitzen. Das könnte zumindest das Problem der latenten Überbelegung lindern.