Auch in der Pandemie kommen ­Profitinteressen vor der Gesundheit

Kapital rastet nicht

Auch in der Pandemie müssen Gesundheitsschutz und Schonung der Arbeitenden hinter den Erfordernissen der Kapitalakkumulation zurückstehen.
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»Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens«. So zitiert Karl Marx in »Das Kapital« T. J. Dunning.

Bei Strafe des Untergangs darf sich der Unternehmer als Funk­tionär des Kapitals keine Renditemöglichkeit entgehen lassen. Das gilt selbstverständlich auch – und gerade – während einer Pandemie. Während die Bewegungsfreiheit der Menschen in der Freizeit strengen Regeln unterliegt, steht deshalb der profitable Teil des ­gesellschaftlichen Lebens keineswegs still: Die Mehrwertproduktion kann sich keine Pause leisten, die Arbeit darf nicht ruhen. In ­Paketzentren und Großraumbüros wird weiter geschuftet, in Fabrikhallen wird weiterhin Schulter an Schulter Fleisch verpackt, werden Autos zusammengeschraubt und Panzer gebaut. Den Fortgang der Kapitalakkumulation darf auch ein potentiell tödliches Virus nicht aufhalten.

Zu vermeiden ist aus Sicht des Kapitals alles, was den Profit schmälert, seien es mehr Pausen, mehr Personal oder Mehrkosten für den Arbeitsschutz. Wie eine Recherche von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung kürzlich ans Licht brachte, verbot Amazon seinen Lagerarbeitern in einem Werk in Norddeutschland, bei der Arbeit eine FFP-2-Masken statt der weniger sicheren medizinischen Einwegmasken zu tragen – offenbar um ihnen keine zusätzlichen Pausen gewähren zu müssen, denn einer Empfehlung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung zufolge sollten FFP-2-Masken nicht mehrere Stunden am Stück getragen werden. In anderen Branchen ist die Situation nicht besser: Kassenkräfte in Supermärkten werden noch immer meist nur durch eine Plastikscheibe geschützt, ­während auch in der Pandemie Erntehelfer aus Osteuropa bis zu 102 Tage ohne Krankenversicherung auf Deutschlands Feldern ­arbeiten.

Aus Unternehmersicht ist das nur konsequent: Die Gesundheit der Arbeiter schlägt sich in der Geschäftsbilanz nicht nieder, so­lange ausfallende Arbeitskräfte sofort durch neue ersetzt werden, Mehrkosten für den Gesundheitsschutz allerdings schon. Dass ­gerade der Arbeitsplatz Infektionsschwerpunkt ist, ergibt sich aus dieser Kosten-Nutzen-Kalkulation. Verantwortung haben Unternehmen weniger gegenüber ihren Arbeitskraftbehältern, deren Gesundheit nur dann eine Rolle spielt, wenn sie nicht leicht aus­getauscht werden können, als gegenüber ihren Investoren, deren Gewinnerwartungen sie zu erfüllen haben.

Illusorisch bis zynisch wirken daher die Appelle von Medien und Politik, die Unternehmen sollten Kosten für zusätzlichen Gesundheitsschutz freiwillig übernehmen und sich damit zur Profitminderung verpflichten. Über ein Jahr lang wurden Unternehmen vom Staat bloß darum gebeten, doch bitte in Coronatests für ihre Mitarbeiter zu investieren – erst am 20. April erließ die Bundesregierung verbindliche Regeln. Ein juristisch durchsetzbares Anrecht auf Arbeiten im Homeoffice gibt es für Beschäftigte bis heute nicht.

Mit dem Galgen, den Dunning anführt, haben die Kapitalvertreter für ihre Missachtung der Gesundheit ihrer Arbeitskräfte nicht zu rechnen. Dass Unternehmen nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten müssen, dafür tragen die Regierenden Sorge, indem sie entsprechende Verordnungen mit großer Rücksicht auf Kapitalinteressen formulieren.

Die Arbeitsschutzverordnungen der Bundesregierung zur Covid-19-Pandemie sind so verfasst, dass sie den Betriebsablauf möglichst nicht beeinträchtigen. Die staatlichen Regeln sollen die Produktion nicht einschränken, sondern sie auch unter Pandemiebedingungen möglich machen. Denn auch für den Staat gilt: Einen größeren Horror als vor dem Verlust von Menschenleben hat er vor Produktionseinschränkungen, die die Profite der Unternehmen schmälern.