Homestory #8

Die Kneipen sind zu, abends ist es noch zu kalt, um draußen zu sitzen, und Netflix hat nicht jeder – oder man hat schon alles geschaut. Es ist also genau die richtige Zeit, um Bücher zu lesen. Aber welche Lektüren sind geeignet, um durch den Lockdown zu kommen? Zu Beginn der Pandemie kramte man ein schmales Bändchen hervor, Albert Camus’ »Die Pest«. Damals dachte man noch, dass das Virus schnell erledigt sein und alles bald wieder anlaufen würde. Inzwischen weiß man, dass die Pandemie dauert und die Bücher entsprechend dick und anspruchsvoll sein sollten. Ein Kollege liest daher Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, ein anderer Thomas Manns »Zauberberg«. Ein Dritter hat gleich zwei Leseempfehlungen, Shakespeares’ »Richard II« und »Triebstruktur und Gesellschaft« von Herbert Marcuse, sowie den allgemeinen Rat, mehr Klassiker zu lesen, um das historische Denken zu schulen, dem sich ein anderer anschließt, der Dostojewskijs »Dämonen« empfiehlt. Zurück in die Vergangenheit, in eine Zeit vor der Pandemie, lässt sich eine Kollegin katapultieren: Sie liest den siebenbändigen Romanzyklus »Das Büro« von J. J. Voskuil und fragt sich, was dessen Protagonist Maarten Koning wohl zu Telefonkonferenzen und Dokumenten in der Cloud gesagt hätte.

Manch einer denkt schon an den Lesestoff für die nächste Pandemie, zum Beispiel eine Kollegin aus dem Layout, denn erst zwei Bände der sechsteiligen Autobiographie von Maya Angelou sind bis jetzt auf Deutsch erschienen, der Rest lässt noch auf sich warten. Und manch andere müssen ebenfalls auf ihre Bücher warten, was aber nicht in der fehlenden Übersetzung begründet liegt, sondern daran, dass das Rezensionsexemplar für den Autor, beim Verlag bestellt, an die falsche Adresse geschickt wurde. Wenn man nicht grade lesen will, muss man als Redakteur eben auch immer wieder lesen, nicht nur die Texte, die man geschickt bekommt, sondern auch die Bücher, die man rezensiert, beim Redakteur im Feuilleton derzeit ein Wälzer mit 1200 Seiten. Und das unter Zeitdruck! Noch schwieriger wird es, wenn man zum Lesen am sonnigen Tag rausgeht, aber in Berlin lebt, wo auf allen halbwegs belebten Plätzen bei der geringsten Temperatur über null Grad sofort jemand eine Anlage aufstellt und zum Lesen nicht grade förderlichen Techno hämmern lässt.

Zu Beginn der Pandemie wurde von vielen das Lesen beschworen: Endlich habe man einmal Zeit, sich dem Schmökern zu widmen. Diese doch etwas zynische Vorstellung, eine Pandemie sei eine Art Wellness-Kur, wird weder der Lage gerecht, in der man mit Unsicherheiten zu kämpfen hat, noch dem Lesen, das ja grade einen klaren Kopf voraussetzt. Aber das Coronavirus, das die Menschen angeblich zurück zu den Büchern brachte, wird ihnen das Lesen auch wieder ordentlich verderben: Sobald die Pandemie vorbei ist, wird eine Flut von Corona-Romanen den Markt überspülen, vieles ist ja bereits angekündigt, und man darf erwarten, dass Schriftsteller X oder Journalist Y die Menschheit mit den Beschreibungen ihrer Schreibstuben im Homeoffice malträtieren wird. Dann doch lieber einen Klassiker.