Im Gespräch mit Aleksandr Samjatin, linker Moskauer Bezirksabgeordneter, über die Straßenproteste und die Strategie der Opposition

»Elektroschocker kommen massenhaft zum Einsatz«

Die Protestbereitschaft in Russland ist gewachsen, doch die Mehrheit der Bevölkerung bleibt passiv. In seinem jüngst auf Russisch erschienenen Buch »Für Demokratie. Lokalpolitik gegen Depolitisierung« untersucht Aleksandr Samjatin, wie man das ändern könnte.
Interview Von

Leonid Wolkow, der Leiter von Aleksej Nawalnyjs aus Regionalstäben bestehender Organisation und faktisch sein Stellvertreter, rief Anfang Februar auf Youtube dazu auf, die gerade erst in Fahrt gekommenen Straßenproteste vorerst einzustellen und sich der Vorbereitung auf die Duma-Wahlen im September zu widmen. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?

Ich gehöre zu denen, die diese Entscheidung für rational halten. Zwar verstehe ich die Enttäuschung vieler über den unvermittelten Stopp, aber mir scheint klar, dass die Proteste in dieser Form so oder so relativ schnell ­wieder abflauen würden. Das wiederum würde zu ­Demoralisierung und Energieverlust führen, weshalb ich denke, es ist besser, rechtzeitig die Bremse zu ziehen. Einige hegen die Illusion, dass diese Proteste einen revolutionären Verlauf nehmen könnten, aber diese Annahme teile ich nicht. Bestenfalls handelt es sich um ein ganz frühes Stadium von Protesten, noch nicht einmal um eine Situation wie im Jahr 1905.

»Es geht nicht nur um die Gewalt auf der Straße, sondern auch um das, was danach kommt.«

Ist das Ausmaß der Proteste zu ­gering oder ist ihre inhaltliche Ausrichtung das Problem?

Für die Verhältnisse im heutigen Putin’schen Russland sind sie durchaus ziemlich groß, aber nicht stark genug, um reale Veränderungen zu erwirken. Die gesamte Gesellschaft, also alle, die sich an den Protesten beteiligen oder sie aufmerksam beobachten, muss sich komplett neu ausrichten. Wir müssen die jetzigen Erfahrungen auswerten und uns besser vorbereiten. Mein politisches Gespür sagt mir, dass die jetzigen Proteste ein riesiges Potential bergen, das bislang fast nicht zum Tragen kommt. Nur eine kleine Gruppe ist bereit, auf die Straße zu gehen, eine wei­tere kleine Gruppe kümmert sich um die Festgenommenen oder spendet Geld, aber eine riesige Anzahl an Menschen hat noch keinen Plan, wie ihre Beteiligung aussehen könnte.

Was zeichnet die jetzigen Proteste aus? Was ist das Neue an ihnen?

Zum einen ist die soziale Basis größer geworden, was sich an Umfrageergebnissen ablesen lässt. Es gibt heutzutage wesentlich mehr Menschen, die gut informiert sind und das Geschehen verfolgen, als es noch bei der großen Protestwelle vor knapp zehn Jahren der Fall war. Innerhalb der Opposition mag es naheliegen zu denken, das ganze Land sei im Bilde über solche Vorgänge, aber dem ist selbstverständlich nicht so. Neu ist, dass es inzwischen gelingt, völlig andere gesellschaftliche Gruppen anzusprechen, auch diejenigen, die früher keine Vorstellung von den Straßenprotesten hatten und nicht verstanden, wozu diese eigentlich gut sein sollen.

Letztere halten sich aber trotzdem noch von den Protesten fern.

Dafür hegen sie Sympathie oder sind aufgeschreckt, zumindest aber wissen sie Bescheid. Andererseits hat die Polizeigewalt zugenommen. Früher hat der Staat bestimmte Gewaltformen vermieden, wie man sie bei europäischen Großdemonstrationen kennt. Tränengas wurde bei uns nicht eingesetzt, auch jetzt wird es höchstens sehr dosiert verwendet. Elektroschocker hingegen kommen nun massenweise zum Einsatz. Aber es geht nicht nur um die Gewalt auf der Straße, sondern auch um das, was danach kommt. Die unzähligen Festnahmen führen neuerdings zu hoffnungslos überfüllten polizeilichen Aufnahmeeinrichtungen. Weil der Platz in Moskau und Umgebung nicht ausreichte, wurden etliche Menschen im Abschiebezentrum für Migranten untergebracht. Früher hat sich niemand für diesen Ort interessiert. Jetzt hat die liberale Opposition endlich ­erfahren, welche Zustände dort herrschen, weil ihre Vertreter selbst dort gelandet ist.

Wolkow hat in seinem bereits genannten Beitrag die Notwendigkeit von Gewaltfreiheit und die moralische Überlegenheit der Protestierenden betont. Was halten Sie von dieser Aussage?

Ich teile die Ansicht, dass wir versuchen sollten, den Protest gewaltfrei zu führen. Aber wo Wolkow moralisiert, argumentiere ich strategisch. Vor uns steht die Aufgabe, den Zuspruch der Massen zu gewinnen. Gewalt schreckt die Schwankenden und Unentschlossenen nur ab. Ich selbst kann mir prinzipiell durchaus ein Szenario mit Elementen von Militanz vorstellen. Aber im Moment geht es darum nicht.

Bei den Aktionen in den Großstädten lag der Altersdurchschnitt der Teilnehmer bei Anfang 30, also niedriger als gewöhnlich. Über Nawalnyj wird in Russland gerne abschätzig behauptet, er ziehe vor allem Jugendliche an.

Das stimmt so nicht. Um es klar zu sagen: Was wir jetzt auf der Straße sehen, beschränkt sich nicht auf Nawalnyjs Anhängerschaft. Seine Bewegung gibt den Anstoß und eine gewisse Richtung vor, aber der Protest reicht in seiner Zusammensetzung und auch inhaltlich weit über Nawalnyjs bisherige Zielgruppen und Programmatik hinaus.

Wie kann man sich die von ihm aufgebaute Struktur vorstellen?

Er hat mit seiner Bewegung die am weitesten entwickelte Infrastruktur in der gesamten Opposition geschaffen. Es gibt in Russland Oppositionspolitiker, aber sie treten meist nur vor Wahlen in Erscheinung und verschwinden anschließend von der Bildfläche. Nawalnyjs Bewegung ist von vornherein von den Wahlen ausgeschlossen, aber sie hat sich damit arrangiert und arbeitet systematisch am Aufbau einer dauerhaften Infrastruktur unter Einbeziehung einer wachsenden Anzahl aktiv Beteiligter. Ein Ergebnis sind die vor den Präsidentschaftswahlen 2018 eingerichteten Regionalstäbe.

Wie funktionieren diese Stäbe?

Oft handelt es sich um aus lokalen Aktivisten zusammengewürfelte Gruppen, die zuvor eigenständig wenig auf die Beine gestellt haben. Nawalnyj verhilft ihnen als Teil einer großen Bewegung zu öffentlicher Präsenz, im Gegenzug geben sie ihre Unabhängigkeit auf und halten sich an die Vor­gaben von Wolkow. Das kann zum Beispiel der Auftrag sein, einen Videobeitrag über besonders korrupte Politiker in der betreffenden Region anzufertigen. So werden sie Teil eines umfassenderen Projekts, das ihre Arbeit aufwertet, was gerade für eher deprimierende Orte mit einer völlig verfestigten Machtstruktur und ohne spürbare Oppositionsaktivitäten von enormer ­Bedeutung ist. Außerdem erhalten sie dank der gut funktionierenden zent­ralisierten Akquise Ressourcen und Räumlichkeiten, so dass sie sich nicht mehr auf Treffen im Gastronomie­bereich von Einkaufszentren oder bei McDonald’s beschränken müssen. ­Eigene Räume hauchen dem Ganzen neues Leben ein und ermöglichen es, Filme zu zeigen oder politische Debatten zu organisieren. Unter anderen politischen Rahmenbedingungen wäre das eine normale Partei, trotzdem mokieren sich viele über den hierarchischen Aufbau. Wären die Leute vor Ort in der Lage, selbständig zu agieren, könnte Wolkow das gar nicht ver­hindern.

Sie haben in einem Buch Ihre Erfahrungen als Bezirksabgeordneter verarbeitet und darin die These vertreten, dass Lokalpolitik zur Überwindung der allgegenwärtigen Politikabstinenz in Russland beiträgt. Wie verhält sich diese Abstinenz zu den jetzigen Protesten?

Wir sind dabei, diesen Zustand zu überwinden, und ich will diesen Prozess beschleunigen. Die Regionalstäbe und andere oppositionelle Bewegungen sind an sich eine positive Erscheinung, umfassen arithmetisch aber vermutlich weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Dann gibt es noch jene, die sich zwar gesellschaftspolitisch engagieren, aber nicht in der Opposition. 90 Prozent bleiben völlig passiv, inte­ressieren sich nicht für die Wahlen, kümmern sich nicht einmal um die Belange ihres unmittelbaren Wohnumfelds und sind allerlei Versuchen manipulativer Meinungsbildung komplett ausgeliefert. Darin drückt sich ein fundamentales strukturelles Defizit aus. Solange sich das nicht ändert, wird es hier nie eine positive Entwicklung geben.

Gibt es diesbezüglich in Ihrer Praxis als Lokalpolitiker relevante Erfolge?

Mir ist klar geworden, dass man die­jenigen, die entsprechend der gängigen liberalen Klischees als dumme Kleinbürger oder passive Sklaven des Systems abgestempelt werden, durchaus wieder an Politik heranführen kann. Hier liegen ungenutzte Potentiale. Ein einfaches Beispiel: Vor ein paar Wochen hat mich wegen der geplanten Einrichtung neuer Parkplätze in einem Hinterhof eine Frau kontaktiert, die die Interessen der Bewohner ihres Hauses gegenüber der Hausverwaltung vertritt. Ich habe ihr vorgeschlagen, eine Hausversammlung einzuberufen, um gemeinsam mit allen Betroffenen über die weitere Hofnutzung zu sprechen. Sie war dagegen, weil die Nachbarn inkompetent seien und alte Leute nur Unsinn von sich geben würden. Oder es würde erst gar niemand erscheinen.

»Die Botschaft der KPRF war zunächst simpel: Das ist nicht unser Protest, Nawalnyj ist ein Provokateur ohne eigene Agenda, aber wir leugnen die Unzufriedenheit in der Bevölkerung nicht.«

Vermutlich gründet diese Haltung in ihrer persönlichen negativen Erfahrung. Wir hätten zu zweit über die Sache reden können. Mein Anliegen besteht aber darin, Leute zusammen­zubringen, damit sie gemeinsam zu einer Entscheidung kommen, deshalb habe ich Aushänge für das Treffen angebracht. Zum Erstaunen der Frau kamen etliche Interessierte, die teils gar nicht wussten, dass man mit einem Bezirksabgeordneten diskutieren und das eigene Wohnumfeld mitgestalten kann. So kamen viele Ideen zustande. Die Befürchtungen der Initiatorin haben sich also nicht bewahrheitet und schaden uns nur selbst.

Meine Funktion als Abgeordneter besteht letztlich darin, Menschen zur politischen Teilhabe zu bewegen und Voraussetzungen dafür zu schaffen. Mir scheint, das kann als Modell für das gesamte Land dienen; Behauptungen, die Leute seien nicht bereit, demokra­tische Verantwortung zu übernehmen, sind nichts als Ausflüchte.

Aber ist das nicht genau der Punkt? Generell werden die Leute lediglich angehalten, wählen zu gehen und an Kundgebungen teilzunehmen, aber diese werden nicht einmal mehr genehmigt.

Ich bin mir sicher, dass das so bleibt. Die Zeit der genehmigten Demonstrationen ist vorbei.

Wie lässt sich aus der gegenwärtigen Situation Nutzen für die Zukunft ziehen?

Das ist die Schlüsselfrage. Abgesehen von gut funktionierenden Initiativen zur Unterstützung Festgenommener verfügen wir praktisch über keinerlei geeignete Basisstrukturen, um das gegenwärtige Mobilisierungspotential in politische Veränderungen umzumünzen. Es bleibt zu hoffen, dass das erwachte Bedürfnis nach aktiver Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen in steigende Selbstorganisation mündet.

Im Frühjahr oder Sommer sollen die Proteste weitergehen, geplant ist zudem, 200 000 Wahlbeobachter zu schulen. Bleiben also wieder einmal nur Wahlen als Handlungsoption?

Wahrscheinlich sind die Duma-Wahlen im September derzeit tatsächlich die nächstliegende Möglichkeit, weite Kreise zu mobilisieren. In den Wahlstäben oppositioneller Kandidaten gäbe es jede Menge zu tun, aber an diesen Kandidaten mangelt es leider. Aussichtsreiche Kandidaten sind starkem Druck oder sogar strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt, wie mein Genosse und Bezirkskollege Konstantin Jankauskas, der unter Hausarrest steht. Er wird bei den Wahlen sicher nicht antreten dürfen. Staatliche Repressalien betreffen uns enorm, deshalb müssen wir uns an diese neue ­Situation anpassen und uns politisch neu aufstellen. Bei mir taucht inzwischen auch Polizei auf, ich kann mich also nicht völlig frei bewegen und muss mehr Flexibilität im Alltag aufbringen. Wir müssen neue Wege finden, um handlungsfähig zu bleiben.

Nawalnyjs Instrument der taktischen Stimmabgabe gegen Kandidaten der Kremlpartei Einiges Russland lässt sich trotzdem anwenden.

Ja, dieses universale System funktioniert selbst bei massenhafter Straf­verfolgung. Trotzdem ist es schlecht, wenn die Anzahl starker Oppositionskandidaten sinkt.

Was tut sich bei der systemnahen Opposition, beispielsweise in der Kommunistischen Partei KPRF?

Bei der KPRF lässt sich eine interessante Entwicklung beobachten. Nach Nawalnyjs Rückkehr, oder besser gesagt nach der ersten großen Aktion am 23. Januar, erteilte das Zentralkomitee ganz offensichtlich die Anweisung, sich von den Protesten zu distanzieren. Die treuesten Anhänger von Parteichef Gennadij Sjuganow verfassten im Wortlaut weitgehend identische Schreiben, auch Ljubow Nikitina aus unserem Wahlkreis, die 2019 über das taktische Wahlverfahren ins Moskauer Stadtparlament eingezogen ist. Die Botschaft ist simpel: Das ist nicht unser Protest, Nawalnyj ist ein Provokateur ohne eigene Agenda; wir leugnen die Unzufriedenheit in der Bevölkerung nicht, nur muss sich der Protest anders äußern. Später hat die KPRF dann wohl verstanden, dass sie ihre Loyalitäts­bekundungen zum Staat zu weit getrieben hat, und rief für den 23. Februar zu einer Kundgebung gegen soziale Ungleichheit auf. (Diese Kundgebung wurde allerdings inzwischen verboten, Anm. d. Red.)

So verhält sich die KPRF nicht zum ersten Mal.

Ja. Aber Walerij Raschkin, der Vorsitzende der Moskauer KPRF und ein Meister im politischen Lavieren, hat sich angesichts der himmelschreienden sozialen Ungerechtigkeit gleich für soziale Proteste ausgesprochen – als ­alternativlose Reaktion darauf, wie die vollgefressene Führungsschicht ihren Reichtum zur Schau stellt. Er hat die Stimmung unter seinen Wählern genau im Blick und versteht, dass er mit der reaktionären Rhetorik der Parteiführung kein gutes Ergebnis einfahren wird. Deshalb liebäugelt er jetzt mit dem radikaleren Teil der Opposition. Das ging sogar so weit, dass die KPRF das sofortigen Ende politischer Repression gegen alle Betroffenen forderte.

Der ehemalige Gouverneur des Irkutsker Gebietes, Sergej Lewtschenko, hat trotz ideologischer Differenzen öffentlich gegen Nawalnyjs Festnahme Stellung bezogen.

Der Punkt mit Nawalnyj ist folgender: Putin inszeniert sich als plebiszitärer Anführer, deshalb orientiert sich die gesamte politische Führungsschicht an ihm – vom Provinzbürgermeister bis hin zum Gouverneur und Minister. Alle müssen ihm von den Lippen lesen. Sobald eine Figur auftaucht, die auch nur ansatzweise zukünftiger Präsident in Frage kommt, finden sich Politiker mit feinem Gespür dafür, woher der Wind weht, wie Raschkin, und halten ­einen Plan B parat für den nicht ausgeschlossenen Fall, dass mit Putin irgendetwas passieren könnte. Im Machtapparat gibt es absolut kremltreue Kader, aber eben auch solche, die weiter in die Zukunft blicken.

 

Aleksandr Samjatin ist seit 2017 parteiloser linker Abgeordneter im Bezirksrat des Moskauer Stadtteils Sjusino. Er arbeitet als freier Dozent für Mathematik an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation und ist Autor des jüngst auf Russisch erschienenen Buches »Für Demokratie. Lokalpolitik gegen Depolitisierung«. Darin geht er der Frage nach, auf welche Weise in Russland eine unabhängige öffentliche Politik betrieben ­werden könnte.