In der Türkei protestieren Studierende gegen regierungstreue Rektoren

Protest gleich Blasphemie

In Istanbul und anderen türkischen Städten protestieren Studierende gegen die Einsetzung regierungshöriger Universitätsrektoren. Polizei und Regierung begegnen den Protesten mit Härte.

Der Aufruhr erinnert ein wenig an die Gezi-Proteste 2013. In der Türkei und im Ausland hat die gewaltsame Festnahme von Studenten der Boğaziçi-Univer­sität in Istanbul Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen ausgelöst. Der Staat, angefeuert von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, reagiert mit Repression, Häme, Kriminalisierung der Demonstrierenden und der Verbreitung von Verschwörungstheorien.

Am Freitag vergangener Woche behauptete Erdoğan beispielsweise, die Ehefrau des seit über drei Jahren in Untersuchungshaft sitzenden Geschäftsmanns und Kulturförderers Osman ­Kavala, Ayşe Buğra, habe bei der Eskalation auf dem Campus ihre Hände im Spiel: »Die Gattin des Mannes, der quasi der Vertreter von Soros in der Türkei ist, ist dieselbe Frau, die auch bei den Provokationen an der Boğaziçi-Uni­ver­sität eine Rolle spielt.« Buğra war dort bis zu ihrer Emeritierung zum Jahreswechsel Professorin im Fachbereich Politische Ökonomie und beschäftigte sich zuletzt überwiegend mit den Beziehungen zwischen Politik, Religion und Wirtschaft. Ihre ehemaligen Studenten betonten in einem offenen Brief am Samstag, dass ihre Dozentin auf eine 40jährige Karriere als Akademikerin zurückblicke, fachliches Renommee besitze und über jeden Verdacht der Verschwörung erhaben sei.

Die Studierenden der Boğaziçi-Uni­versität demonstrieren seit Anfang ­Januar gegen die Ernennung des neuen Rektors Melih Bulu durch ein präsidiales Dekret. Der habilitierte Ingenieur ist aktives Mitglied der Regierungspartei AKP und war bereits im vergangenen Jahr mit den Studenten der Haliç-Universität in Istanbul aneinandergeraten, wo er damals Rektor war. Dort hatte er den Studierenden pauschal Täuschungs­versuche vorgeworfen und angeordnet, dass Prüfungen mit Kameras überwacht werden. Die Tageszeitung Cumhuriyet hat darüber hinaus von Gerüchten berichtet, denen zufolge Bulu eine Gruppe von Journalisten mitgegründet habe, die gegen Kritiker der AKP Verleumdungskampagnen initiiert.

In den vergangenen vier Wochen ist es zu etlichen Zusammenstößen auf dem Campus und der Umgebung der Boğaziçi-Universität gekommen. Ein Vorfall aber polarisierte besonders: Die Studenten hatten für den 29. Januar eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst auf dem Campus organisiert. Ein Bild darin zeigt die Kaaba – ein zentrales Heiligtum des Islam – und daneben eine Regenbogenflagge, das Symbol der LGBTIQ-Szene. Religiöse Studierende teilten Fotos davon auf Twitter, die ­Istanbuler Staatsanwaltschaft leitete nach Anzeigen von empörten Bürgern Ermittlungen ein. Vier Studierende wurden festgenommen, zwei von ihnen inhaftiert. Als ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen daraufhin eine Mahnwache abhielten, griff stürmte Polizei in der Nacht auf den 1. Februar den Campus. Sie prügelte auf die ­Studierenden ein und nahm 159 von ihnen fest.

Der türkische Innenminister Süleyman Soylu kommentierte das auf Twitter so: »Vier LGBT-Perverse, die die Kaaba an der Boğaziçi-Universität verunglimpft haben, wurden festgenommen.« Der Präsident des Amtes für ­Religiöse Angelegenheiten (Diyanet), Ali Erbaş, äußerte sich ähnlich: »Ich verurteile den Angriff auf den heiligen Ort der Muslime, die Kaaba, und auf unsere islamischen Werte.« Er werde rechtliche Schritte gegen diejenigen einleiten, die diese Verunglimpfung zu verantworten hätten. Der LGBTIQ-Club der Universität wurde bereits geschlossen. Ein Mitglied des Clubs, Oğuz T., ist der festen Überzeugung, die türkische Regierung versuche, mit Hilfe des Vorfalls die Demonstranten als Blasphemiker zu kriminalisieren. »Seit den Gezi-Protesten ist die LGBTIQ-Bewegung innerhalb der gesellschaftlichen Opposition eine maßgebliche Stimme geworden. Die versuchen sie nun zu ersticken.«

Am Wochenende wurden nun 60 weitere Demonstranten in Batman, Adana und Izmir festgenommen. Auch dort waren die Rektoren einiger örtlicher Universitäten per Präsidialdekret ausgewechselt worden. In den sozialen Medien kursieren zahlreiche Videos, die das rigorose Vorgehen der Polizei gegen protestierende Studenten zeigen – dort ist zu sehen, wie Polizisten unerbittlich auf Demonstrierende ­einschlagen, sie zu Boden werfen, treten und gewaltsam wegschleppen.

Der Abgeordnete der oppositionellen CHP und Menschenrechtler Sezgin Tanrıkulu nimmt an den Protesten teil und unterstützt sie mit Aktionen im ­Internet. Er postierte sich mit einer Gruppe von Studierenden vor dem ­Istanbuler Polizeipräsidium und informierte die Öffentlichkeit über die jüngsten Entwicklungen. Am Samstag teilte er mit, dass fünf der am 2. Februar festgenommenen Studierenden sich immer noch in Untersuchungshaft befänden und ihnen terroristische Aktivitäten vorgeworfen würden; er forderte ihre sofortige Freilassung. In İzmir hätten Angehörige inhaftierter Studierender berichtet, dass die Polizei diese bei einer Durchsuchung genötigt hätte, sich nackt auszuziehen. »Ich hatte gehofft, dass diese menschenverachtenden Praktiken der Vergangenheit angehören«, so Tanrıkulu. Die Uni­versitäten in der Türkei waren während und nach Militärputschen stets Orte des Protests und Schauplatz harter Repression durch den Staat. Daran scheint die türkische Regierung nun anzuknüpfen.