Der Mordversuch an Aleksej Nawalnyj zeigt das ambivalente Verhältnis zu Russland

Dem Partner Grenzen setzen

Die deutsche Politik ist uneins darüber, wie sie sich nach dem versuchten Mord an Aleksej Nawalnyj gegenüber Russland verhalten soll. Die Bundesregierung hat erstmals ihre Unterstützung für die Pipeline Nord Stream 2 in Frage gestellt.

Am Sonntag gingen zahlreiche Russen zur Wahl: 18 Gouverneursposten und viele regionale und kommunale Parlamente wurden neu besetzt. »Kluges Wählen« heißt die vom Oppositionellen Aleksej Nawalnyj propagierte Taktik, um das Machtmonopol der Regierungspartei »Einiges Russland« zu erschüttern. Die Empfehlung lautete, nicht eine bestimmte Partei, sondern die aussichtsreichsten Oppositionskandidaten zu wählen. Regierungsgegner haben so einige Sitze in Lokalparlamenten errungen, etwa in Nowosibirsk und in der Stadt Tomsk, wo Nawalnyj sich aufhielt, bevor er einem Attentat zum Opfer fiel. Bisher haben 3,8 Millionen Menschen sein Enthüllungsvideo über die Korruption in Tomsk auf Youtube gesehen. Trotzdem erhielt Wladimir Putins Partei »Einiges Russland« am Sonntag auch in Tomsk wieder fast die Mehrheit der Sitze – bei einer Wahlbeteiligung von 16 Prozent.

Merkel widersprach bei einer Sitzung der CDU/CSU-Bundestags­fraktion Forderungen nach Sanktionen gegen Nord Stream 2 und hatte die große Mehrheit der Fraktion hinter sich.

Politisch ist Nawalnyjs Bewegung keine große Bedrohung für die russische Regierung. Auch Proteste wie nach der Ermordung des liberalen Politikers Boris Nemzow im Jahr 2015 gab es wegen des Giftanschlags auf Nawalnyj bisher nicht. Es sind dessen Youtube-Videos, die vielleicht am besten erklären, warum der Oppositionelle den Herrschenden Russlands dennoch ein Dorn im Auge ist: Er klagt darin das System an und nennt Namen und Adressen der Kleptokraten. Einige Experten mut­maßen deshalb, das Attentat könnte unabhängig von der Staatsführung irgendwo im Apparat angeordnet worden sein, denn Feinde hat Nawalnyj viele.

Doch für die Bundesregierung scheint der Fall klar zu sein. Offiziell hält sie sich zwar bisher mit Verurteilungen zurück, aber die Medien meinen bereits seit einer Woche zu wissen, wie das Kabinett den Fall bewertet. So schrieb etwa die Zeit am 9. September, die Bundesregierung hege »intern keinen Zweifel mehr daran«, dass »ein russischer Geheimdienst, beauftragt vom Kreml«, Nawalnyj habe töten wollen. Bruno Kahl, der Präsident des Bundesnachrichtendiensts (BND), habe in einer »geheimen Runde« Journalisten des Spiegel verraten, Nawalnyj habe mit einer neuen Variante des Nervengifttyps Nowitschok getötet werden sollen. Die Komplexität dieses neuen Gifts ist offiziellen Darstellungen des BND zufolge ein starkes Indiz für die Beteiligung der russischen Regierung. Nur die Notlandung und die ­rasche Behandlung mit einem Gegengift durch die sibirischen Ärzte habe Nawalnyjs Tod verhindert.

Während mittlerweile Labore in Frankreich und Schweden den deutschen Befund bestätigt haben, Nawalnyj sei Opfer eines chemischen Nervengifts geworden, behauptet die russische Regierung weiterhin, keine Belege für eine Vergiftung zu haben. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet zwar ­unter Berufung auf mehrere Augenzeugen, dass die Notärzte in Sibirien eine Vergiftung diagnostiziert und Nawalnyj dementsprechend behandelt hätten, doch die russische Regierung widersprach in offiziellen Stellungnahmen. Ein Regierungssprecher sagte Anfang September, es habe »ein ganzer Komplex von Analysen« stattgefunden, bei denen »keine toxischen Substanzen gefunden« worden seien.

Wie schon bei dem Anschlag auf den Doppelagenten Sergej Skripal 2015 in Großbritannien streiten Russland und westliche Staaten über die Form der internationalen Ermittlungen. Damals forderte Russland, direkt an der Untersuchung beteiligt zu werden, und warf der britischen Regierung Manipulationen vor. Doch viele sahen in der russischen Kritik an der Arbeit der internationalen Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) vor allem ein Ablenkungsmanöver. Ähnliche Strategien Russlands ließen sich in der Vergangenheit bei Ermittlungen zum Giftgaseinsatz in Syrien und beim Prozess wegen des Abschusses des Passagierflugzeuges MH17 beobachten, der zurzeit in den Niederlanden stattfindet. Die Chefredakteurin der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja twitterte Anfang September: »Ich weiß nicht, wer Nawalnyj vergiftet hat und ob er überhaupt vergiftet wurde. Es gibt keinen Grund, den deutschen Diensten mehr zu vertrauen als jedem anderen. In Ermangelung unanfechtbarer Fakten wählt eine Person immer aufgrund ihrer Sympathien aus, wem sie glauben will.«

Am 9. September bestellte die russische Regierung den deutschen Botschafter in Moskau ein, um gegen »haltlose Vorwürfe und Ultimaten« aus Deutschland zu protestieren, wie es in einer Presseerklärung des russischen Außenministeriums heißt, und forderte die Übermittlung aller für den Fall relevanten Proben und Befunde. Sollten diese Materialien nicht geliefert werden, werde dies als Weigerung der Bundesregierung gewertet, »zur Wahrheitsfindung im Rahmen einer objektiven Aufklärung beizutragen«. Etwaige Sanktionen werde man als eine »grobe feindselige Provokation gegen Russland« einstufen.

Die Bundesregierung schaltete, dem internationalen Protokoll folgend, die OPCW ein, und versprach, einem russischen Rechtshilfeersuchen zu entsprechen. Allerdings will die Bundesregierung große Teile der Ermittlungsakten geheimhalten. »Russland verfügt über alles Notwendige, um Ermittlungen durchzuführen«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert dazu am Montag. Die Bundes­regierung will, dass die EU geschlossen Aufklärung von der russischen Regierung fordert, und weiß dabei zum Beispiel den französischen Präsidenten Emmanuel Macron an ihrer Seite. Auch eventuelle Sanktionen könnte die EU gemeinsam erlassen.

Zugleich wird in der deutschen Politik diskutiert, ob der umstrittene Bau der Pipeline Nord Stream 2 als Reaktion auf den Mordanschlag abgebrochen werden sollte. Jahrelang hatte die Bundesregierung die von dem russischen Unternehmen Gazprom gebaute Pipeline, an deren Finanzierung zahlreiche europäische Energiekonzerne beteiligt sind, gegen Kritik aus dem In- und Ausland verteidigt. Auch als die USA jüngst versuchten, den Bau der fast fertiggestellten Gasleitung mit Sanktionsdrohungen aufzuhalten (Volles Rohr in den Wirtschaftskonflikt - Jungle World 34/2020), nahm Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das Vorhaben demonstrativ in Schutz. Längst sind alle Genehmigungen erteilt, ein Abbruch hinterließe eine elf Milliarden US-Dollar teure Investitionsruine.

»Ich hoffe nicht, dass die Russen uns zwingen, unsere Haltung zu Nord Stream 2 zu ändern«, sagte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD). Zahlreiche Regierungsmitglieder, etwa Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Gesundheitsminister Jens Spahn (beide CDU), ­äußerten sich ähnlich. Selbst Merkel schloss Sanktionen gegen Nord Stream 2 nicht mehr aus. Für Russland, das mit der Pipeline seine führende Stellung als Gaslieferant in Europa sichern will, wäre das ein großer Rückschlag. So wollte die Bundesregierung offenbar der russischen Regierung ­demonstrieren, dass sie sich alle Handlungsmöglichkeiten offen halte. Doch wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, widersprach Merkel bei einer Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vor einer Woche Forderungen nach Sanktionen gegen Nord Stream 2 und hatte dabei die große Mehrheit der Fraktion hinter sich.

Unter den Bewerbern um den CDU-Vorsitz und möglichen Kanzlerkandi­daten fordert Norbert Röttgen ein Ende des Baus, Friedrich Merz eine zweijäh­rige Pause, Armin Laschet dagegen verteidigte die Pipeline ebenso wie der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Markus Söder. Ähnlich gespalten ist die SPD. Während die AfD und vor allem die Linkspartei sich für die Fertigstellung der Pipeline einsetzen, lehnen die Grünen den Bau nicht zuletzt aus ökologischen Gründen ab.

So hat der Mordanschlag auf Nawalnyj zumindest bisher die deutschen Beziehungen zu Russland kaum verändert, aber deren Widersprüchlichkeit noch einmal deutlich zutage treten lassen: Das Bestreben, die wirtschaftliche Partnerschaft zu stärken und außenpolitisch mit Russland zusammenzuarbeiten, passt schlecht zum Interesse, als Mitglied der westlichen »Staatengemeinschaft« dem mächtigen Nachbarn, der mutmaßlich mit der versuchten Ermordung Nawalnyjs erneut seine Unberechenbarkeit zur Schau gestellt hat, Grenzen zu setzen.