Vor 40 Jahren beendete ein Polizeieinsatz die »Republik Freies Wendland«

Der Traum von einem anderen Leben

Vor 40 Jahren zerstörten Polizeieinheiten das Hüttendorf 1004 in einem Wald bei Gorleben in Niedersachsen. Besetzerinnen und Besetzer, die gegen den geplanten Bau von Atomanlagen protestierten, hatten dort die »Republik Freies Wendland« proklamiert, die sie als Gegenentwurf zur Bundesrepublik Deutschland verstanden.

Ein Foto zeigt sie, wie sie zu Hunderten dicht gedrängt zusammensitzen. Eine Fahne mit der Aufschrift »Atomkraft? Nein danke!« und der lachenden Sonne auf hellem Grund ist an einem abgeschnittenen Ast befestigt. Es ist trocken, aber viele tragen Ostfriesennerze oder dicke Jacken, auch Halstücher und Schutzbrillen gegen Tränengas; jeder Dritte hat einen Motorradhelm aufgesetzt. Teilweise sind noch die Städte- und Gruppenkürzel zu sehen: »Gö II«, »B 6«, HH A«. Hinter ihnen stehen große, aus Ästen und Baumstämmen zusammengebaute Hütten, auch ein großes Gewächshaus, ein hölzernes Gestell, mit Plastikplanen überzogen. Dahinter wiederum sieht man mehrere Reihen von Polizisten, vor sich große Plexiglasschilder, lange Knüppel in der Hand, weißer Helm, grüne Uniform.

Die Aufnahme entstand am Morgen des 4. Juni 1980, kurz bevor mehrere Tausend Beamte von Polizei und Bundesgrenzschutz (BGS) – inzwischen heißt diese bis zum Schengener Abkommen paramilitärische Truppe Bundespolizei – das Hüttendorf 1004 räumten. Seit dem 3. Mai desselben Jahres war dort ein Dorf mit über 100 Hütten entstanden. Mehr als 2 000 AKW-Gegner und -Gegnerinnen saßen am 4. Juni untergehakt auf dem sandigen Boden und weigerten sich, freiwillig zu gehen.

»Die Besetzung wurde im Wesentlichen durch Einheimische organisiert, nicht durch Auswärtige.« Willy Grote, Atomkraftgegner

Die Schwarzweißfotografie von Günter Zint ist auf dem Titel eines Faltblatts abgedruckt, mit dem das Gorleben-Archiv e. V. über seine Arbeit informiert. Das Archiv dokumentiert den Widerstand gegen die Planungen für ein »Nukleares Entsorgungszentrum Gorleben«, die der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) am 22. Februar 1977 vorstellte: Im dünn besiedelten Landkreis Lüchow-Dannenberg an der Grenze zur DDR sollten eine große Wiederaufarbeitungsanlage für atomare Brennstäbe und ein Endlager für den bundesdeutschen Atommüll entstehen. Bereits drei Wochen später gründete sich die Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e. V. Die genauen Umstände beschreibt deren langjährige Vorsitzende, die 2016 verstorbene Marianne Fritzen, in dem im Dezember 2019 vom Gorleben-Archiv veröffentlichten Buch »›Mein lieber Herr Albrecht … !‹ Wie der Gorleben-Konflikt eine Region veränderte«, das 34 Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen enthält.

Gegen die Räumung des Hüttendorfs wurde auch nackt protestiert

Bild:
Günter Zint

Anlass der Veröffentlichung war der 40. Jahrestag des Trecks nach Hannover vom 25. bis zum 31. März 1979. 500 Traktoren fuhren damals von Gorleben in die Landeshauptstadt. Zur Abschlusskundgebung kamen fast 100 000 Menschen. Die Planungen für das Atommüllendlager in Gorleben liefen weiter. »Das war ziemlich brutal, weil die Probebohrungen danach sofort weitergegangen sind, als hätte es Hannover gar nicht gegeben«, erzählt Elke Janning in »›Mein lieber Herr Albrecht … !‹«. 1979 fuhr sie als junge Bäuerin einen der Trecker nach Hannover. Im Interview sagt sie: »Für mich hat das alles die Erfahrung gebracht, dass ich mich wehren muss, dass ich viel mehr hinterfragen muss.« Wolfgang Eisenberg, der 1978 aus Kassel ins Wendland zog, erinnert sich in dem Buch an die politische Stimmung, die in Lüchow-Dannenberg herrschte: »Damals war der Landkreis noch tiefschwarz. Die NPD hatte in den siebziger Jahren hier ja zweistellige Wahlergebnisse. Diese Leute waren alle auch gegen Gorleben.« Auch in einer BI-Ortsgruppe habe es »solche Rechte« gegeben.

Die Frauen demonstrierten zuerst
In den Räumen des Gorleben-Archivs in Lüchow gibt es nicht nur dieses Buch. Material aus über vier Jahrzehnten Protestgeschichte ist dort zugänglich. Am Anfang war es keineswegs ausgemacht, dass im Landkreis Lüchow-Dannenberg Protest gegen Atomkraft populär werden würde. »1976 war Gorleben ein etwas verschlafenes Dorf im nordöstlichen Niedersachsen«, schreibt Wolfgang Ehmke, der heutige Pressesprecher der BI, in dem 2013 im Laika-Verlag erschienenen Mediabuch »Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv IV«. Dieses dokumentiert den ländlich geprägten Widerstand rund um Gorleben, den Ehmke beschreibt als »das Verzögern von Projekten, die sich dann mangels Wirtschaftlichkeit für die profitorientierten Konzerne nicht mehr rechneten«. So nahm die Atomwirtschaft von dem Plan Abstand, in Gorleben eine Wiederaufarbeitungsanlage für radioaktive Brennstäbe zu bauen – stattdessen wurde Wackersdorf im bayerischen Grenzgebiet zur Tschechoslowakei zum neuen Standort erkoren. Die Pläne scheiterten am hartnäckigen Protest vor Ort.

Die Festlegung auf Gorleben als Standort für das Atommüllendlager wurde inzwischen zurückgenommen. 2017 versprach die Bundesregierung, »ergebnisoffen« nach einem Standort für das Endlager zu suchen. 1982 begann in Gorleben der Bau eines Zwischenlagers für Atommüll. 1984 erreicht der erste Transport mit leicht radioaktivem Material das Lager. Zwischen 1995 und 2011 wurde dort auch hochradioaktiver Atommüll eingelagert – begleitet von Protesten mit Sitzblockaden bis hin zur Demontage von Straßen und Schienen auf den Anfahrtswegen. »Später gab es dann natürlich die vielen, vielen Castor-Transporte, mit hochradioaktiven und auch schwachradioaktiven Material«, sagt Willy Grote im Gespräch mit der Jungle World. Er nahm seit der Errichtung des Hüttendorfs 1004 immer wieder an Protesten in der Gegend von Gorleben teil. »Gott sei Dank wurde eine Wiederaufbereitung verhindert«, sagt er. 1979 gab die niedersächsische Landesregierung unter Albrecht bekannt, auf die Errichtung einer Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben zu verzichten. Das Zwischenlager nennt Grote »Kartoffelscheune«. Die Halle voller Atommüll sieht den großen Scheunen in der Region verblüffend ähnlich.

Anfang 1980 liefen die Vorbereitungen für den Bau des geplanten Endlagers. Der Atommüll sollte in dem unter Gorleben verlaufenden Salzstock eingelagert werden, weil dieser geologisch angeblich besonders stabil und dicht sei. »Durch die bergmännische Erschließung besteht die Gefahr, dass der Salzstock Gorleben als Endlager für radioaktive Abfälle genutzt wird, obwohl er dafür nach international geltenden Kriterien nicht geeignet ist«, kritisierte die BI. »Da andere Salzstöcke nicht untersucht werden, besteht der begründete Verdacht, dass der gläubigen Bevölkerung mit den Tiefbohrungen nur eine Prüfung des Salzstockes vorgespielt wird.« Um die Festlegung auf den Salzstock Gorleben zu rechtfertigen, sollten Probebohrungen und weitere geologische Prüfungen stattfinden. Dafür wurden die Tiefbohrstellen 1002 bis 1005 festgelegt. Der Ort für das geplante Tiefbohrloch 1004 befand sich in einem Waldgebiet auf dem Gebiet der angrenzenden Gemeinde Trebel. Nach einem Waldbrand standen dort nur noch Baumstümpfe, es war eine sandige Brachfläche. Aber es gab einen Waldweg dorthin, und so demonstrierten dort Ostern 1980 viele Frauen, die an einem internationalen Widerstandstreffen im Landkreis teilgenommen hatten. Es wurde dazu aufgerufen, die Tiefbohrstelle 1004 zu besetzen.

Dem von der BI herausgegebenen Mitteilungsblatt Gorleben-Rundschau zufolge sagte eine Rednerin: »Wir wehren uns gegen das Bild von der sanften und friedfertigen Frau. Wir sind wütend!« Die 2019 verstorbene Lieselotte Wollny, genannt »Lilo«, gehörte zu dem kleinen Kreis, der die BI gegründet hatte, und wurde später als parteilose Kandidatin über die niedersächsische Landesliste der Grünen in den Bundestag gewählt. Sie zitierte das Mitteilungsblatt 2017 mit den Worten: »Wir hatten niemals mit so vielen Frauen gerechnet, und Irritationen in der Landkreisbevölkerung blieben natürlich nicht aus.« An den Tiefbohrstellen 1002 und 1003 wurde bereits mit schwerem Gerät bis in den Salzstock hinunter gebohrt. Die Zeit drängte: Der Platz sollte besetzt werden, bevor die Polizei ihn abriegeln und in eine Festung verwandeln konnte.

Am 3. Mai war es so weit: Tausende Menschen demonstrierten zur Tiefbohrstelle 1004. Bei strahlendem Sonnenschein, hinter einem improvisierten kleinen Lautsprecherwagen – einem PKW, der vor allem mit bunten Luftballons dekoriert worden war – machte sich ein langer Zug auf einem staubigen Waldweg auf zur Bohrstelle. Die Besetzung war gut geplant. »Das Freundschaftshaus war von Zimmerleuten im Vorfeld vorbereitet worden. Es war sozusagen ein fertiger Bausatz, der nach Erreichen des Bohrplatzes nur noch aufgestellt werden musste«, sagte Wollny 2010 dem Portal wendland.net. »Es war das einzige Haus, das vorgeplant war. Ich glaube, es hatte sein Vorbild in der Platzbesetzung in Wyhl (1975 wurde der in der Nähe des baden-württembergischen Wyhl gelegene Bauplatz des Atomkraftwerks Süd besetzt, Anm. d. Red.), es sollte zum ­Versammlungsort und zum Mittelpunkt des entstehenden Hüttendorfes werden.«

Das symmetrische achteckige Haus mit Platz für 200 Personen wurde der zentrale Anlaufpunkt im Dorf; hier fanden auch die abendlichen Sitzungen des Sprecherrats statt, an dem Delegierte aus den Bezugsgruppen der Besetzenden teilnahmen, die oft jeweils eine größere Hütte bewohnten.

Entscheidungen wurden im Konsens getroffen, der Ausbau und Betrieb des Dorfes geplant und die Frage aller Fragen debattiert: Was tun, wenn die Polizei räumt? Die BI Lüchow-Dannenberg hatte große Bedenken, dass radikale Linke aus den Großstädten ihr Konzept des zivilen Ungehorsams und der Gewaltlosigkeit nicht mittragen würden. Da ein Großteil der dauerhaft im Hüttendorf lebenden Menschen aus den linksradikalen Milieus der Großstädte kam, war diese Sorge nicht unbegründet. Aber das Bündnis hielt. Die zunächst nur wenigen Aktiven aus dem Landkreis hatten ein Konzept entwickelt, das gewaltlos, aber nicht legalistisch war – Gesetzesübertretungen wie die Besetzung waren ebenso vorgesehen wie lediglich passiver Widerstand gegen die Polizei bei einer möglichen Räumung.

Neben Zimmerleuten, die auf der Walz waren und gerne im Hütten­dorf 1004 lebten, bauten viele mit, die so etwas zu ersten Mal machten.

»Die Besetzung wurde im Wesentlichen durch Einheimische organisiert, nicht durch Auswärtige«, erinnert sich Grote, der als Schüler aus Hamburg ins Hüttendorf kam. »Einheimische haben in wochenlanger Fleißarbeit die Planungen gemacht, Baumaterial und Nahrungsmittel organisiert. Ich empfand keine Distanz zwischen den Einheimischen und den Auswärtigen, auch bei späteren Aktionen im Wendland war so etwas eher die Ausnahme.« Das war zumindest bei denen so, die das Camp unterstützten. Denn während auf der Brachfläche ein Dorf entstand, in dem viele Veranstaltungen, Diskussionen und gemeinsame Aktivitäten stattfanden, ging das Leben der Mehrheit in den umliegenden Dörfern nahezu unberührt weiter. Dem Buch »Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv IV« liegen drei DVDs mit Filmen der Wendländischen Filmkooperative bei, darunter der Film »Der Traum von einer Sache«, der 1981 in die Kinos kam. Dieser stellt dem Leben im besetzten Hüttendorf 1004 den Alltag in den umliegenden Dörfern gegenüber. Die Bewohner zeigen auf Nachfrage des Filmteams viel verlegene Indifferenz und auch Ablehnung. »Die bezahlen ja alle mit 100-Mark-Scheinen. Das können doch keine Studenten ohne Geld sein, die werden von der DDR bezahlt«, sagt etwa ein älterer Mann mit Cordhütchen. Damals war in Westdeutschland die antikommunistische Unterstellung gängig, Linke würden von der DDR finanziert und gesteuert. Daneben gab es auch den Vorwurf der Nähe zur RAF. Eisenberg sagt in »›Mein Lieber Herr Albrecht … !‹«: »Es wurde behauptet, das sind die bösen Linken, die haben sich jetzt hier Zweitwohnsitze gekauft. Das sind alles verkappte Terroristen.«

Überall wurde gebaut, gewerkt und gefeiert
Die im Hüttendorf 1004 lebenden Menschen hatten damals alle im Parlament vertretenen Parteien gegen sich, nicht nur die niedersächsische CDU-Landesregierung unter Albrecht. Der sagte am 30. Mai, wenige Tage vor der Räumung des Hüttendorfes: »Wir werden dafür sorgen, dass in Niedersachsen die elektrischen Lichter nicht ausgehen!« Auch die damalige sozialliberale Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) protegierte den Ausbau der Atomenergie. Bundesinnenminister Gerhart Baum, ein in seiner Partei als links geltender FDP-Politiker, sagte, die Probebohrungen seien zur Erkundung des Salzstocks von Gorleben erforderlich, das Hüttendorf 1004 müsse deshalb geräumt werden. Die einmütige Unerbittlichkeit der Parteien galt auch im Landkreis. So versuchten zwei Beamte, den Besetzenden am 22. Mai einen »Amtlichen Hinweis« des Landkreises zu überreichen, »im eigenen wohlverstandenen Interesse die widerrechtliche Besetzung unverzüglich unter Mitnahme ihrer Habe aufzugeben und sich darauf zu besinnen, ihre Meinung im Rahmen des geltenden Rechts kundzutun«, wie die Elbe-Jeetzel-Zeitung am 23. Mai 1980 zitierte. Im Gorleben-Archiv lassen sich dieser Artikel und ähnliche finden.

Innenminister Niedersachsens war 1980 Egbert Möcklinghoff (CDU). Der Jurist, der in der Wehrmacht für Nazideutschland gekämpft hatte, wurde 1981 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern ausgezeichnet. In einem Interview mit dem NDR verurteilte er die Besetzung als »Hochverrat gegen die Bundesrepublik Deutschland«, weil ein Teil des Territoriums der Bundesrepublik abgespalten werde. Das Hüttendorf 1004 war von den Atomkraftgegnerinnen und -gegnern zur »Republik Freies Wendland« erklärt worden. Am »Grenzübergang« war bei der Ausreise aus dem Hüttendorf ein Warnschild zu sehen, auf dem »Halt, BRD. Vorsicht, Schusswaffen« stand – eine Kritik an Erschießungen bei Polizeieinsätzen. Wer ins Dorf einreiste, konnte gegen eine Spende von zehn D-Mark einen »Wendenpass« mit Stempel bekommen, auf dem das Symbol der Republik Freies Wendland zu sehen war: einer stilisierte Sonne. Die wehte auch als Fahne: gelbe Sonne auf grünem Grund. Auf dem Gelände wurde überall gebaut, gewerkt, musiziert, diskutiert und gefeiert. »Die Organisation war in meinen Augen wunderbar«, erinnert sich Grote, »sobald es für etwas Freiwillige brauchte, waren viele Leute dabei.«

Keine der mehr als 100 Hütten sah wie die andere aus. Neben Zimmerleuten auf der Walz, die gerne im Dorf lebten, bauten viele mit, die so etwas zum ersten Mal machten. Einige hatten geniale Ideen. So wurde beim großen Frauenhaus die Südwand aus leeren Flaschen mit Beton in den Zwischenräumen hochgezogen. Tagsüber heizten sich die Flaschen auf, nachts gaben sie Wärme ab. Ausrangierte Fenster aus den Dörfern der Umgebung wurden eingebaut, viel Brandholz und von Menschen aus der Umgebung gespendete Bretter und Baumstämme wurden verbaut. Es gab ein Meditationshaus, eine Kirche, das große Freundschaftshaus, eine Sauna, Badehütten, Gewächshäuser, ein Klinikum, einen Frisiersalon, eine Mülldeponie, eine Ponyreitanlage für Touristen, ­einen Schweinestall, zwei hohe Türme mit Ausgucken und eine acht Meter hohe Schiffsschaukel.

Im nahen Wald wurde eine Latrinenreihe eingerichtet. Nachdem es zu Beginn kein fließendes Wasser gab, wurde ein Brunnen gebohrt und ein Leitungsnetz verlegt. So gab es zumindest im Küchenhaus und zum Duschen Wasser. Ein paar Bauarbeiter aus Dannenberg konstruierten eine Solardusche, andere aus dem Dorf bauten ein Windrad. Es war anstrengend und viele fuhren zwischendurch in ihre Wohnorte, um sich auszuschlafen, sich richtig zu waschen und frische Kleidung zu besorgen. »Viele Hütten waren schon nutzbar, als wir ankamen«, erzählt Grote, der mit Mitschülern an den Wochenenden aus Hamburg ins Wendland fuhr. »Bei ein paar Baumstämmen habe ich mit angefasst, es war ein gutes Gefühl, mit 15 bis 20 jungen Menschen einen Baumstamm heben zu können. Praktisch mitgebaut mit Säge und Hammer habe ich nicht, es gab so viel zu sehen und so viele Menschen zu sprechen.«

Als die Polizei aufmarschierte, rückten die Besetzenden dicht zusammen

Bild:
Günter Zint

Nach zwei Wochen Besetzung sendete der Piratensender »Radio Freies Wendland« das erste Mal von einem der Türme. In der Elbe-Jeetzel-Zeitung wurde jeden Tag ein Veranstaltungsangebot veröffentlicht. Es gab Theateraufführungen, Konzerte und Vorträge. Ein Höhepunkt war das Pfingstwochenende: Über 5 000 Neugierige schauten sich das Dorf an; am Samstagabend gab der bundesweit bekannte Liedermacher Walter Mossmann ein Konzert mit seinen Anti-Atom-Liedern. »Überall waren Leute aus allen Teilen Deutschlands, man hörte viele Dialekte und wusste: Hier passiert jetzt Geschichte«, erinnert sich Grote.

Das sehen auch andere so, die damals dabei waren. »Die Freie Republik Wendland wurde aber viel mehr als eine Platzbesetzung«, meint Rebecca Harms, die die BI mitgegründet hatte und später Landtags- und Europaabgeordnete der Grünen war, in »›Mein Lieber Herr Albrecht … !‹«. »Die Freie Republik Wendland verband sich für viele auf dem Platz mit dem Traum von einem anderen Leben.« Innenminister Möcklinghoff dagegen »soll bei einem Besuch im Wendland gesagt haben, dass die scheinbare Idylle und das ärmliche und rechtschaffene Bild nur Kulisse seien«, sagt Birgit Huneke vom Gorleben-Archiv der Jungle World. »Eine Holzhütte mit der Bezeichnung ›Fritz-Teufel-Haus‹ hielt für die Anschuldigung der Lüneburger Bezirksregierung her, die Republik Freies Wendland sei ein Refugium für Terroristen.« Teufel stand damals wegen des Vorwurfs, als Mitglied der Bewegung 2. Juni an der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz beteiligt gewesen zu sein, vor Gericht.

Die Elbe-Jeetzel-Zeitung titelte am 3. Juni 1980: »Polizei erwartet Gewalttätigkeiten«. Die Räumung könne nicht gewaltfrei verlaufen, weil sich »Bremer und Göttinger Gruppen mit Ausrüstungsgegenständen im weitesten Sinne in dem Anti-Atom-Dorf befänden«, hieß es in dem Artikel. In Bremen war am 6. Mai ein Bundeswehrgelöbnis militant gestört worden, dies diente zur Legitimation der Räumung. Den Besetzern wurden unter anderem ein Verstoß gegen die Campingverordnung vorgeworfen. Am 4. Juni marschierten über 3 000 Polizisten und Beamte des BGS auf und kreisten das Hüttendorf 1004 ein. In einem »Bürgerkriegsszenario«, wie Harms es rückblickend nennt, verbreitete vor allem der paramilitärische BGS Angst: Die Beamten fuhren Räumpanzer auf und ließen ihre schweren Transporthubschrauber lange tief über dem Dorf kreisen. Sie wirbelten den staubigen Sand der Brachfläche auf. Nach der Landung stürzten die Kommandos heraus – einige der Beamten hatten sich die Gesichter schwarz angemalt, um noch bedrohlicher zu wirken. Mit erhobenem Schild und Knüppel gingen sie vor, schlugen auf die am Boden sitzenden Hüttendorfleute ein, um einzelne zum Wegtragen oder -schleifen herauszulösen.

Bis zuletzt sendete Radio Freies Wendland von einem der Türme: »Die Leute, die abgeräumt werden, machen gar nichts und werden trotzdem zusammengetreten. Einer kann sich schon kaum noch rühren. Es ist ein Wunder, dass sich der Rest noch an die Abmachung hält und nicht zurückschlägt, keinen Widerstand leistet.« Trotzdem wurde das Konzept des gewaltlosen Widerstands eingehalten. Die Polizei brauchte nur wenige Stunden, um fast alle aus dem Dorf zu transportieren. Sobald eine Hütte geräumt war, zerstörte die Polizei sie mit einem Bulldozer oder einer Planierraupe. Zuletzt wurden die Türme zum Einsturz gebracht. 40 Jahre ist das her. »Doch der für eine ganze Generation identitätsstiftende Geist der Freien Republik Wendland hat sich bis in die Auseinandersetzungen um die Atommülltransporte nach Gorleben niedergeschlagen«, resümiert das Gorleben-Archiv.